Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1

doch (fast) nichts entgegensetzen. Eine
Stunde lang hat Merkel am Telefon ver-
sucht, den türkischen Präsidenten davon
zu überzeugen, von seinem Feldzug gegen
die Kurden abzulassen. Geholfen hat es
nicht. Es war, wieder einmal, Luxemburgs
Außenminister Jean Asselborn, der offen
zugab: »Wir sind als Europäer nicht in der
Lage, das zu stoppen.« Es gebe »kein eu-
ropäisches Land, das jetzt Soldaten in die-
sen Korridor schicken wird«, sagte er dem
SPIEGEL.
Seit Jahren diskutieren die Europäer
über eine stärkere Zusammenarbeit in der
Außen- und Sicherheitspolitik, samt fle-
xibler Einsatztruppe, gemeinsamen Streit-
kräften und Rüstungsbeschaffung. Doch
wenn sie, wie jetzt in Syrien, als Ordnungs-
macht gefordert wären, können sie sich
nicht auf eine politische Linie einigen, ge-
schweige denn auf Taten. Sollen sich an-
dere die Hände schmutzig machen. Auch
deshalb wirkt diesmal die Kritik an Trump
scheinheilig.
Frankreich zieht seine Spezialkräfte,
200 Elitesoldaten, aus Syrien ab. Die EU-
Staaten schaffen es noch nicht einmal, sich
auf eine koordinierte Haltung gegenüber
Erdoğan zu verständigen. Die Türkei ist
für sie ein Krisenherd, zugleich aber Nato-
Verbündeter und, zumindest noch auf dem
Papier, EU-Beitrittskandidat. Hier
leben über drei Millionen syrische
Flüchtlinge, um die sich Ankara –
im Auftrag der EU – kümmern soll.
Wenn Erdoğan damit droht, den
Flüchtlingsdeal aufzukündigen,
dann steckt Europa wieder in der
Bredouille. Wohin mit all den Men-
schen?
Es zeigt sich, dass sich die Regie-
rungen erpressbar gemacht haben,
als sie die Lösung des Flüchtlings-
problems den Türken überließen.
Immer dann, wenn sich Erdoğan kri-
tisiert fühlt, kann er mit der Öffnung
der Grenzen Richtung EU drohen.
Seinen Einmarsch in Syrien recht-
fertigt er unter anderem damit, dass
er syrischen Flüchtlingen wieder
eine sichere Heimat bieten wolle –
und das Dilemma ist, dass Europa
dem wenig entgegenzusetzen hat.
Zwar einigten sich die 28 EU-Au-
ßenminister am Montag, neue Ge-
nehmigungen für Waffenlieferun-
gen auszusetzen. Aber zu einem
generellen Waffenembargo konn-
ten sie sich nicht durchringen. Dass
die EU Sanktionen gegen Ankara
verhängt, gilt als beinahe ausge-
schlossen. Das liegt auch daran,
dass Erdoğan sehr gute Beziehun-
gen zum Beispiel zu den Polen
oder Ungarn pflegt.
Grünenchefin Annalena Baer-
bock hält den Rüstungsexport-


stopp für eine »Farce«. Statt gegenüber
Erdoğan Haltung zu zeigen, sei die
Bundesregierung zu lange zu sanft ge-
blieben. Deutschland habe durch die
Wirtschaftsbeziehungen zur Türkei ei-
nen großen Hebel in der Hand. »Sie darf
wirtschaftliche Aktivitäten in der Türkei
nicht mehr durch Investitionsgarantien
absichern.«
Bislang lässt Erdoğan jede Kritik des
Westens an sich abprallen. Nicht die Tür-
kei, sondern Länder wie die USA und Sau-
di-Arabien würden Zivilisten massakrie-
ren, sagt er. Deutschlands Außenminister
Heiko Maas, der die türkische Regierung
für ihre Syrienoffensive rügte, nannte er
einen Dilettanten. »Wenn du etwas von
Politik verstehen würdest, würdest du
nicht so sprechen.«
Das Machtvakuum, das die USA in Sy-
rien hinterlassen haben, wird auf abseh-
bare Zeit nicht von den Europäern gefüllt
werden – sondern von anderen Mächten,
vor allem von Russland.

Putins geniales Spiel


An jenem fatalen Sonntag, an dem Trump
mit Erdoğan telefonierte und der Türkei
grünes Licht für ihre Invasion gab, befand
sich Putin auf einem Wandertrip in Sibi-

rien. Er hatte etwas zu feiern. Es war der
Tag vor seinem 67. Geburtstag.
Putin muss nach der Kapitulationserklä-
rung Trumps kaum in den Syrienkonflikt
eingreifen, es läuft für ihn auch so alles
nach Plan. Durch geschickte Diplomatie
und skrupellose Kriegführung hat er Assad
an der Macht gehalten.
Nach dem Rückzug der Amerikaner ist
Russland die einzig verbliebene Groß-
macht in Syrien. Putin ist in einer Position,
in der er alle anderen Kräfte fortwährend
gegeneinander ausspielen kann.
Während die USA ihre Verbündeten in
Syrien gegen sich aufgebracht haben, hat
Russland über die Jahre das Gegenteil er-
reicht: Mit Assad und Iran ist Putin ohne-
hin verbündet. Aber auch die türkische
Führung, die einmal mehr den Kampf ge-
gen die Kurden geschickt instrumentali-
siert, rückte immer näher an Moskau he-
ran. Den Kurden wiederum bleibt nach
dem Einmarsch der Türken keine andere
Wahl, als auf Russlands Vermittlung zu
hoffen. Es ist an Putin und an seinem so
brillant wie skrupellos taktierenden Au-
ßenminister Sergej Lawrow zu entschei-
den, wer welche Gegenden in Syrien be-
kommt.
Putin und Lawrow haben im Verlauf
des Krieges nie ausschließlich auf Assad
gesetzt, sondern auch mal den Tür-
ken und den Kurden geholfen. An-
fang August, bei der 13. Runde der
sogenannten Astana-Gespräche in
der Hauptstadt von Kasachstan,
bereiteten Moskaus Unterhändler
den entscheidenden Zug vor. Die
Gespräche liefen nach Russlands
Willen und Vorstellung, Iran und
die Türkei waren mit dabei, die
USA und Europa dagegen nicht.
Bei dem Treffen im Rixos-Hotel
habe Russland die türkische Regie-
rung unter Druck gesetzt, ihren lan-
ge angedrohten Einmarsch ins Kur-
dengebiet zu vollziehen, sagte ein
Konferenzteilnehmer, der nicht na-
mentlich zitiert werden möchte,
dem SPIEGEL. Das Ziel Putins sei
klar: »Die Russen setzen alles daran,
die Türkei aus der Nato zu ziehen.«
Nicht der Erfolg der türkischen
Invasion liegt in Moskaus Interesse,
sondern deren Scheitern. Aber Pu-
tin und Lawrow spielen gern über
Bande. Und in der vergangenen
Woche ist alles nach Wunsch ver-
laufen: Putin antizipierte, anders
als Erdoğan, dass sich die Kurden
im Falle eines Rückzugs der Ame-
rikaner und eines Angriffs der Tür-
kei Assad zuwenden würden. As-
sads Machtbereich wird nun schlag-
artig größer. Im Norden Syriens
gibt es Ölquellen, die Geld bringen,
außerdem leben dort Hunderttau-

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Titel

KOMMERSANT PHOTO AGENCY / ACTION PRESS
Präsident Putin, Minister Lawrow: Brillant und skrupellos

MURAT CETINMUHURDAR / ANADOLU AGENCY / DDP
Gesprächspartner Pence, Erdoğan:120 Stunden Waffenruhe
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