aus dem Ausland, aus Deutschland, Frank-
reich, Tunesien (siehe Seite 19).
Nun jedoch könnten die Wirren der
Kämpfe Baghdadis Befreiungsappell Wirk-
lichkeit werden lassen: Die Internierten
sind sich selbst überlassen, weil ihre kurdi-
schen Aufseher an die Front gehen oder
vor den Granateinschlägen der Türken flie-
hen. So war es jedenfalls im Lager von Ain
Issa, wo knapp 800 Frauen und Kinder ein-
saßen: »Per Lautsprecher kam die Durch-
sage des Wachpersonals, dass sie nicht
mehr für das Camp verantwortlich seien«,
berichten zwei freigekommene IS-Frauen
dem SPIEGEL. »Dann stiegen sie in ihre
Autos und fuhren davon.« Die Häftlinge
hätten Verwandte oder Schmuggler ange-
rufen, um abgeholt zu werden. 40 Familien
ließen sich freiwillig in ein anderes Camp
weiter südlich bringen, sagt der ehemalige
Lagerleiter: »Und jeden Tag werden wei-
tere aufgegriffen, die durch die Gegend ir-
ren.« Aber dass es einen Aufstand in Ain
Issa gegeben habe, dort Gefängnismauern
von Granaten zerstört worden und Hun-
derte Kämpfer entkommen seien: alles
PR der kurdischen Politiker. In Ain Issa
gab es einen Maschendrahtzaun und keine
Männer.
Die größte Gefahr droht im Moment aus-
gerechnet jenen weiblichen Häftlingen, die
sich längst losgesagt haben vom IS. Eine
deutsche Gefangene bestätigt, was der Ex-
tremismusforscher Charlie Winter vom
Londoner International Centre for the Stu-
dy of Radicalisation (ICSR) berichtet: dass
in al-Haul, dem größten Lager, die Radika-
lenfraktion der Frauen bereits Listen von
Insassen führe, die als »Abtrünnige« exe-
kutiert werden sollen. Vor Tagen wurde das
Kind einer vermeintlichen Verräterin er-
mordet. »Ich bete, dass die Wachen blei-
ben«, so eine deutsche Insassin via Whats -
App: »Sonst kommen die anderen und ste-
chen uns ab oder zünden unsere Zelte an.«
Der IS ist nach wie vor eine der reichs-
ten Terrororganisationen der Welt, sein
Vermögen wird von Uno-Experten auf bis
zu 300 Millionen US-Dollar geschätzt.
Baghdadi hat seinen Traum von einem ei-
genen »Kalifat« nicht aufgegeben. Er setzt
offenbar darauf, dass sich seine Kämpfer
nach ihrer Befreiung aus der Haft sam-
meln, neu gruppieren und irgendwann zu
einem neuen Eroberungsfeldzug ansetzen.
Der Terrorchef gibt sich überzeugt, dass
die Zeit den Dschihadisten in die Hände
spielt. In einer Videobotschaft im April, sei-
ner einzigen in fünf Jahren, riet Baghdadi
seinen Anhängern zu einem Zermürbungs-
krieg aus dem Hinterhalt, der den Gegner
aufreiben solle, bis er derart geschwächt
sei, dass die Dschihadisten zum entschei-
denden Gefecht ausholen könnten.
Sieg der Autokraten
Dass selbst ein Ende der Kampfhandlun-
gen in Syrien keine Lösung bedeuten wird,
sondern nur Hass für Generationen her-
vorbringen wird, Verwüstung und Warten
auf Rache, ist schon jetzt klar.
Weite Teile von Homs, Aleppo, den Vor-
städten von Damaskus liegen seit Jahren
in Trümmern. Die Hälfte der Bevölkerung
ist geflohen, etwa eine halbe Million Men-
schen sind umgekommen, das Brutto -
inlandsprodukt ist schätzungsweise auf ein
Viertel der Vorkriegszeit geschrumpft. Der
Wiederaufbau des Landes würde einen
dreistelligen Milliardenbetrag kosten, den,
so stellt es sich zumindest Moskau vor, der
Westen bereitstellen soll.
Und das finale Grauen steht erst noch
bevor: Drei Millionen Menschen leben in
Idlib, der letzten Rebellenbastion. Der
Kampf dort dürfte in den kommenden Wo-
chen und Monaten den mörderischen Ab-
schluss eines Krieges bilden, in dem Assad
und Putin bereits jetzt jedes Tabu gebro-
chen haben, vom Chemiewaffeneinsatz
über das gezielte Bombardement von
Krankenhäusern bis hin zum Aushungern
ganzer Städte. Die Lethargie der interna-
tionalen Gemeinschaft bietet Assad keinen
Anreiz zur Zurückhaltung.
So wie er von Anfang an auf Gewalt
statt Reformen gesetzt hat, weil jede Ver-
handlung, jede Konzession eine Erosion
seiner Macht bedeutet hätte, sind Wieder-
aufbau und Versöhnung überhaupt nicht
in seinem Interesse.
Wer sich seinem Regime nicht vollstän-
dig unterwirft, darf nicht zurück. Die Idee
mancher europäischen Außenpolitiker,
Assad mit Zahlungen zu Reformen zu be-
wegen, ist naiv: Sein Regime hat selbst am
Rand des Untergangs keine Konzessionen
gemacht, hat durch seinen Terror die Krise
überhaupt erst eskalieren lassen.
Die Gründe für die Proteste von 2011,
Unterdrückung und Korruption, sind nicht
verschwunden, im Gegenteil. Gewachsen
ist die Angst der Menschen. Sie ist für Assad
der Schlüssel zur Macht. Sie muss er schü-
ren, wenn er sein Volk beherrschen will.
Die Amerikaner haben sich unter
Trump als Ordnungsmacht aus dem Na-
hen Osten zurückgezogen. Die Russen ha-
ben ihren Platz eingenommen. Herrscher
von Ankara bis Kairo werden sich künftig
sehr genau überlegen, mit wem sie Deals
abschließen. Putin, Assad, Erdoğan legen
die Nachkriegsordnung für Syrien fest.
Platz wird da nur für jene sein, die den
drei Despoten genehm sind.
Christian Esch, Julia Amalia Heyer,
Katrin Kuntz, Roland Nelles,
Maximilian Popp, Christoph Reuter,
Raniah Salloum, Christoph Scheuermann,
Severin Weiland
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DELIL SOULEIMAN / AFP / GETTY IMAGES
Fliehende Zivilisten bei Tall Abjad: »Erdoğans Terroristen bombardieren uns«
Zuflucht in der Türkei
Türkische Provinzen mit den meisten
registrierten Flüchtlingen aus Syrien, 2019
Istanbul
549 477 syrische
Flüchtlinge
Laut türkischem Innenministerium sind derzeit
insgesamt 3,6 Mio. syrische Flüchtlinge
in der Türkei registriert.
Şanlıurfa
428 684
Gaziantep
451 461
Hatay
440 336
Adana
239 258