Haldenwang, 59, ist seit November 2018
Präsident des Bundesamts für Verfassungs-
schutz. Davor war der Jurist Vizechef der
Behörde mit Hauptsitz in Köln.
SPIEGEL:Herr Haldenwang, der Atten -
täter von Halle kam wie aus dem Nichts.
Er schlug offenbar zu, ohne dass er den
Behörden als Extremist aufgefallen wäre.
Wie erklären Sie sich das?
Haldenwang:Er muss einen längerfristigen
Tatplan gehabt haben, er hat seine Waffen
aus eigenen Mitteln zusammen-
gebaut. Dazu muss er sich im
Internet Materialien beschafft
haben. Aber er hat seinen anti -
semitischen Anschlagsplan, so-
weit wir das bisher wissen, mit
niemandem geteilt.
SPIEGEL:Täter wie er radika-
lisieren sich in Foren und Netz-
werken im Internet, die oft
eine Verbindung zur Gamer-
Szene haben. Hat der Innen-
minister recht, wenn er diese Szene genau-
er beobachten will?
Haldenwang:Die Masse der Gamer hat
nichts mit Rechtsextremismus im Sinn,
selbst die nicht, die Ballerspiele mögen.
Aber wenn ich wahrnehme, dass sich auf
diesen Seiten Hass und Hetze entwickeln,
wenn rechtsextremistisches Gedankengut
geteilt wird bis zu der Idee, einen Terror-
anschlag zu begehen, dann müssen wir uns
mit diesen Plattformen befassen.
SPIEGEL:Hätten Sie das nicht längst tun
können?
Haldenwang:Wir tun, was wir können,
aber für eine deutlich intensivere Internet-
beobachtung bedarf es zusätzlichen Perso-
nals. Das ist eine aufwendige Aufgabe, und
es müssen sachkundige Mitarbeiter sein, die
entsprechende Tendenzen erkennen und
verdächtige Personen identifizieren können.
SPIEGEL:Wie viele Leute brauchen Sie?
Haldenwang:Die bei meinem Amtsantritt
angekündigte Aufstockung um 50 Prozent
ist bereits erfolgt. Mit 300 zusätzlichen
Stellen würden wir uns in die richtige Rich-
tung weiterentwickeln und uns damit un-
serer Abteilung Islamismus und Islamisti-
scher Terrorismus annähern. Wir brau-
chen aber auch Befugnisse, die uns wieder
auf die Höhe der Zeit bringen.
SPIEGEL:Sie meinen die Überwachung
von Chatkommunikation, die oft ver-
schlüsselt abläuft?
Haldenwang:Ja. Zum Beispiel über Mes-
senger-Dienste. Es darf doch keinen Un-
terschied machen, ob wir eine SMS mitle-
sen wollen oder eine WhatsApp-Nachricht.
SPIEGEL:Sollen die Provider verpflichtet
werden, den Behörden bei Bedarf eine ent-
schlüsselte Version von Chats zur Verfü-
gung zu stellen?
Haldenwang:Das wäre ein sehr weitge-
hender Ansatz, es gibt Alternativen, etwa
die sogenannte Quellen-TKÜ, die wir be-
vorzugen. Wir würden auf die Handys von
Extremisten zugreifen, bevor
die Kommunikation verschlüs-
selt ist. Immer unter den strik-
ten Voraussetzungen des Geset-
zes, wonach jede Überwa-
chung von einem unabhängi-
gen Gremium genehmigt wer-
den muss. Und nur, wenn es
sich um eine potenziell beson-
ders gefährliche Person handelt.
SPIEGEL:In Halle hätte das
wohl alles nichts genützt. Je-
mandem, den man nicht kennt, kann man
keinen Trojaner aufs Handy spielen, um
ihn zu überwachen.
Haldenwang:Es wird leider immer Fälle
geben, die man nicht im Vorfeld detektie-
ren kann. Wir können aber die Chancen
erhöhen. Etwa indem wir mit mehr Perso-
nal das Internet intensiver beobachten.
SPIEGEL:Im Juni wurde der Kasseler Re-
gierungspräsident Walter Lübcke auf sei-
ner Terrasse erschossen. Wohl von einem
Mann, der viele Jahre lang tief in der
rechtsextremen Szene veran-
kert war. Wie konnte das pas-
sieren?
Haldenwang:Der mutmaßli-
che Täter war für das Bundes-
amt für Verfassungsschutz seit
2005 nicht mehr sichtbar ex-
tremistisch in Erscheinung ge-
treten. Es gab ja auch eine
scheinbar nachvollziehbare Er-
klärung. Er hatte geheiratet,
ein Haus gebaut, geregelte Ar-
beit, Kinder, Hund, er war im Verein. Es
sah nach außen hin alles nach einer erfolg-
reichen Resozialisierung aus.
SPIEGEL:Stephan Ernst war 2009 noch
an einem Übergriff auf eine Gewerk-
schaftskundgebung in Dortmund beteiligt.
Davon wusste Ihr Amt nichts?
Haldenwang:Das ist nicht in die Systeme
des Bundesamts für Verfassungsschutz ge-
langt, er war für uns vier Jahre zuvor vom
Radar verschwunden. Daher hat unsere
Behörde die Daten über ihn nach Ablauf
der Speicherhöchstfrist von zehn Jahren
im Jahr 2015 aus der Datei gelöscht. Es gab
aber nach Bekanntwerden der Terrorgrup-
pe NSU ein Löschmoratorium. Nur des-
halb lagen überhaupt noch Unterlagen vor.
SPIEGEL:Gibt es eine Lehre aus dem
Mordfall Lübcke?
Haldenwang:Wir sollten darüber nach-
denken, die Löschfrist auf 15 Jahre zu ver-
längern. Und dann muss man jeden Fall
genau prüfen, bevor man löscht: Hat sich
die Person von dieser Szene gelöst? Oder
gibt es Anhaltspunkte, die einen zweifeln
lassen? Es darf keine automatisierte Lö-
schung mehr geben.
SPIEGEL:Ist Ernst ein Einzelfall?
Haldenwang:Wir haben sehr intensiv in
unseren Unterlagen und Dateien gesucht,
ob es vergleichbare Fälle gibt. Stand heute
sehen wir keinen.
SPIEGEL:Hinweise auf islamistische Täter
bekommen Sie oft von ausländischen Part-
nern, etwa aus den USA. Haben Sie je ei-
nen Hinweis auf einen Rechtsterroristen
in Sachsen oder Hessen bekommen?
Haldenwang:Bei der Bekämpfung des
Rechtsextremismus steht zunächst die na-
tionale Zusammenarbeit im Vordergrund.
Seit den Anschlägen von Norwegen und
Neuseeland wurde der internationale Aus-
tausch verstärkt. Ich bin zuversichtlich,
dass dies künftig zu gegenseitigen Hinwei-
sen führen wird. Wegen unserer Expertise
sind wir auch international ein begehrter
Ansprechpartner.
SPIEGEL:Was ist für Sie neu an diesem
Tätertypus, der sich in Halle gezeigt hat?
Haldenwang:Neu ist die Internationalität.
Rechtsextremismus, wie wir ihn kennen,
war lange vor allem ein sehr deutsches
Phänomen. Jetzt sehen wir: Anders Brei-
vik in Oslo, Brenton Tarrant in Christ-
church, Patrick Crusius in El Paso, der At-
tentäter in Halle, es ist wie
eine Kette, fast schon ein inter-
nationaler Wettbewerb. Eine
andere Erkenntnis ist: Um sich
so zu radikalisieren und An-
schlagspläne zu entwickeln,
bedarf es offenbar keiner tie-
fen Ideologie mehr. Da reichen
Emotion, Hass, Hetze, dieses
Sich-Aufpeitschen im Netz,
dieses Zusammenkommen
von Menschen, die aufgrund
sehr einfacher Botschaften, manchmal ver-
sehen mit Fake News, zu so einem Welt-
bild kommen und meinen, sie müssten
jetzt losschlagen.
SPIEGEL:Gibt es einen gesellschaftlichen
Diskurs, der diese Taten befördert?
Haldenwang:Zurzeit findet in Deutsch-
land eine stärkere Ideologisierung statt,
die Grenzen verwischen. Die sogenannte
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Deutschland
»Emotion, Hass, Hetze«
SicherheitVerfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang fordert
mehr Personal im Kampf gegen rechts. Um Taten wie in Halle
zu verhindern, will seine Behörde das Internet intensiv überwachen.
Quelle: BMI
polizeilich registrierte
Gewalttaten 2018
gegen Juden
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Quelle: BKA
rechts motivierte
Straftaten 2018
gegen Politiker
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