Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1

E


s war ein waghalsiger Trip quer
durch Europa, 43 jüdische Kinder
aus Berlin, Hamburg, Leipzig,
Frankfurt und Wien auf der Flucht
vor den Nazis, fünf Jahre lang. 1945 lan-
deten sie in Palästina.
Siegfried Kirschenbaum war einer der
Jugendlichen, die so mithilfe der zionisti-
schen Jugendbewegung gerettet wurden.
Sein Vater wurde im KZ Dachau ermordet,
seine Mutter starb in einem polnischen La-
ger. »Kinder der Villa Emma« wurden sie
später genannt, weil die Flüchtlinge ein Jahr
lang in einer leer stehenden italienischen
Villa bei Modena untergekommen waren.
Kirschenbaum, 94, lebt seitdem in Israel.
Doch sein jüngster Sohn Oren entschied sich
2016 für ein Leben in Deutschland. Der 37-
Jährige ist Videoproduzent und Tonmeister,
er wohnt heute im Südschwarzwald. Schon
früher habe er Deutschland besucht, sagt er,
er sei mit einem »freundlichen Bild« der
Bundesrepublik aufgewachsen. »Mein Vater
sagte uns Kindern immer: Das Deutschland
von heute ist anders als damals.« Noch aus
der Schweiz, wo er studierte, beantragte
Oren Kirschenbaum 2015 die deutsche
Staatsbürgerschaft. Er hat sie bis heute nicht.
Andere Nachkommen jüdischer Emi -
granten wurden direkt abgelehnt, als sie
versuchten, Deutsche zu werden, so wie
es ihre Eltern oder Großeltern gewesen wa-
ren. Angela Schock-Hurst etwa, 63, deren
jüdischstämmiger Großvater aus Berlin in
England überlebt hatte. Die Britin, die als
Deutschlehrerin arbeitete, beantragte 2016
ihre Einbürgerung. Das Bundesverwal-
tungsamt beschied ihr allerdings, es gebe
keine »Anhaltspunkte« für ein »öffentli-
ches Interesse Deutschlands«.
Ist es der Bundesrepublik also egal,
wenn sich Nachkommen verfolgter Juden
wieder für Deutschland entscheiden? Im
Grundgesetz gibt es einen Satz, der wie
eine freundliche Einladung klingt, in Arti-
kel 116 Absatz 2 steht dort: »Frühere deut-
sche Staatsangehörige, denen zwischen
dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945
die Staatsangehörigkeit aus politischen,
rassischen oder religiösen Gründen entzo-
gen worden ist, und ihre Abkömmlinge
sind auf Antrag wiedereinzubürgern.«
Die deutsche Rechtspraxis sieht jedoch
seit Langem anders aus. Für viele gilt das


  • In Hamburg im Gedenken an den Vater und die Ge-
    schwister der Großmutter Lior Orens.


Versprechen des Artikels 116 nämlich
nicht. Dem SPIEGELliegen zahlreiche Ab-
lehnungsbescheide vor. Mal war zwar die
geflohene Mutter Deutsche, aber der Vater
nicht – und nach früher geltender Rechts-
lage wurde die Staatsangehörigkeit eheli-
cher Kinder allein vom Vater hergeleitet.
Andere Flüchtlinge hatten die Staatsbür-
gerschaft des Exillands angenommen und
galten deshalb als nicht ausgebürgert. Bis
April 1953 verloren Frauen schon die deut-
sche Staatsangehörigkeit, wenn sie einen
Ausländer heirateten. In anderen Fällen
war jemand nach amtlicher Auffassung
zum falschen Zeitpunkt geboren und ver-
fehlte deshalb einen Stichtag.
Allein 2017 und 2018 wurden fast 10 000
Anträge auf Einbürgerung oder Wiederein-

bürgerung nach Artikel 116 gestellt, wie aus
der Antwort der Bundesregierung auf eine
Kleine Anfrage der FDP hervorgeht – doch
nur rund 3900 wurden in der Zeit positiv
beschieden. Wie kann es sein, dass so lange
nach dem Ende des Holocaust es den Nach-
kommen vertriebener Juden so schwer ge-
macht wird, einen deutschen Pass zu be-
kommen? So wie Lior Oren aus Israel, 37,
der immer wieder bei deutschen Behörden
vorstellig wurde. Seine Hamburger Groß-
mutter Helga hatte sich 1936 mit ihrem
Mann Bernard, der, aus Polen kommend,
an der Elbe aufgewachsen war, nach Israel
retten können. Ihr Vater und ihre Geschwis-
ter wurden deportiert und ermordet.
2012 zog Oren nach Hamburg, fand ei-
nen Job als IT-Fachmann und wollte die

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Deutschland

Mehr Gnade als Recht


NS-VerfolgteNachkommen deutscher Juden müssen um ihre Einbürgerung kämpfen. Die
Opposition fordert nun eine gesetzliche Lösung, aber die Regierung ist dagegen. Warum eigentlich?

Antragstellerin Schock-Hurst, Stolpersteine*, eingebürgerter Oren:

OLIVIA HARRIS / DER SPIEGEL
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