rem Vater der deutsche Pass wohl gar nicht
»entzogen« worden sei. Ihr Vater sei näm-
lich nicht jüdisch genug gewesen, um von
den Nazis ausgebürgert zu werden. »Nach
dem NS-Reichsbürgergesetz war Jude«, so
wurde sie belehrt, »wer von mindestens
drei volljüdischen Großeltern abstammt«,
ihr Vater stamme jedoch nur »von zwei
volljüdischen Großelternteilen ab«.
Als auch ihr Widerspruch abgelehnt wur-
de, schloss sich Schock-Hurst der britischen
»Article 116 Exclusions Group« an, einer
Initiative von mehr als 200 Abkömmlingen
einstiger meist jüdischer Deutscher, deren
Anträge nach Artikel 116 abgelehnt wor-
den waren. Auch Betroffene aus den USA,
Israel oder Südafrika seien dazugekom-
men, so der Sprecher der Gruppe, Nicholas
Courtman. »Der Artikel 116 verspricht, er-
littenes Unrecht wiedergutzumachen, des-
halb fordern wir die deutsche Regierung
auf, nicht nur einigen, sondern allen Nach-
kommen NS-Verfolgter einen Anspruch
auf die deutsche Staatsbürgerschaft wieder
rechtmäßig zuzuerkennen.« Die Erlasse
seien nur ein »guter erster Schritt«.
Nach dem Brexit-Referendum von 2016
landeten immer mehr Einbürgerungs -
anträge britischer Juden beim Bundesver-
waltungsamt. 2015 waren es noch 43, im
Jahr 2018 dann schon 1506. Die Botschaf-
ten, die reihenweise frustrierte Antragstel-
ler vertrösten oder abweisen mussten,
schlugen Alarm. In London war sogar von
einem »Antrags-Tsunami« die Rede. In
zwei Brandbriefen, zuletzt im Juli, mahnte
das Auswärtige Amt (AA) den Innenmi-
nister, endlich zu handeln.
Das ist inzwischen geschehen, doch
Innenstaatssekretär Helmut Teichmann
warnt vor allzu hohen Erwartungen. Es
werde »noch längere Zeit dauern, bis die
Antragsrückstände abgearbeitet« seien,
schrieb er den Kollegen im AA, wegen der
»Komplexität der Fälle« seien die Verfah-
ren »nicht weiter zu beschleunigen«.
Seehofers Erlasse produzieren sogar
neue Ungerechtigkeiten, sie gelten nur für
Antragsteller im Ausland, nicht für solche,
die in Deutschland leben. »Dadurch wird
die absurde Situation geschaffen, in der es
schneller, günstiger und aussichtsreicher
ist, ins Ausland zu ziehen und von dort
einen Antrag zu stellen als von Deutsch-
land aus«, sagt der Brite Courtman.
Alle, die von Deutschland aus eine Ein-
bürgerung betreiben, müssen nicht nur
mehrere Jahre warten, sondern auch einen
Sprach- und Einbürgerungstest bestehen.
Antragsteller aus dem Ausland brauchen
das nicht. Der Erlass erfasse auch immer
noch nicht alle Fälle, kritisiert die Berliner
Rechtsanwältin Esther Weizsäcker.
Der Berliner Politikstudent Hugo M.*,
27, steht kurz vor dem Masterabschluss,
* Name geändert.
sein Deutsch ist nahezu perfekt. Aber
Deutscher werden durfte er bisher nicht,
obwohl seine Familie von den Nazis aus
Stuttgart vertrieben worden war. Der ge-
bürtige Brasilianer, dessen deutsche Ur-
großeltern 1939 mit ihren Kindern nach
Südamerika geflohen waren, hatte bereits
2014 von Brasilien aus seinen Einbürge-
rungsantrag nach Artikel 116 gestellt.
2015 begann er ein Studium in Potsdam.
Dort empfahl ihm die Behörde, seinen An-
trag lieber zurückzuziehen, er habe keine
Aussicht auf Erfolg. Er fügte sich – und zahl-
te 191 Euro Gebühr. Wenn er etwas warte,
habe ihm das Amt erklärt, könne er einen
Antrag auf reguläre Einbürgerung stellen.
Dann habe es geheißen, das gehe erst, wenn
er sein Studium abgeschlossen und einen
Job gefunden habe. 2018 versuchte er es in
Berlin, wohin er umgezogen war. Auf Rat
der Behörde beantragte er, seine deutsche
Staatsangehörigkeit möge amtlich festge-
stellt werden. Nun befand das Amt: Als un-
eheliches Kind erhalte er seine Staatsange-
hörigkeit über die Mutter – doch die ist Bra-
silianerin. Der Antrag wurde abgelehnt.
M. sitzt in einem Lokal in Pankow. Er
zeigt Familienfotos: sein Urgroßvater in
den Zwanzigerjahren in Stuttgart, er war
Geschäftsführer beim Israelitischen Ober-
rat Württemberg. »Er hat viele Menschen
gerettet, denn er hat ihnen Visa besorgt.«
Auch sein Opa wurde in Stuttgart geboren.
»Ich bin sein Enkelkind, das nicht ein-
gebürgert wird, weil es im falschen Jahr
geboren wurde«, sagt Hugo M. bitter.
Denn wäre er ab Juli 1993 und nicht 1992
zur Welt gekommen, hätte er wegen neuer
Rechtslage die Staatsbürgerschaft auch
über seinen Vater bekommen können.
»Warum will man mich nicht haben?«,
fragt er. »Ich möchte die Geschichte meiner
Familie in Deutschland weiterführen.« Den
Artikel 116 gebe es doch, »weil in Nazi-
deutschland Menschen weggejagt wurden.
Deshalb ist meine Familie ins Ausland ge-
gangen, sonst wäre ich in Deutschland ge-
boren worden«. Nach den Erlassen will er
wieder bei den Behörden vorsprechen.
Oren Kirschenbaum im Südschwarz-
wald hat sicherheitshalber schon mal den
vorgeschriebenen Einbürgerungstest ab-
solviert. Die erste Frage war: »In welchem
Jahr wurde Hitler Reichskanzler?« Das
wusste er natürlich sofort.
Annette Großbongardt, Christoph Schult
Mail: [email protected]
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Deutschland
DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019
Die erste Frage im Ein-
bürgerungstest war:
»In welchem Jahr wurde
Hitler Reichskanzler?«
»Wovon
ernähren sich
Koalabären?«
»Von den
Blättern vom
Apokalypsusbaum.«
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