Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1
Deutschland

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manche Bürger, um nach Reichtum zu streben, indem sie
Maschinen erfanden, Fabriken bauten, den Massenkon-
sum anheizten. Die Massen nahmen das an und stürzten
sich auf den Konsum. Pursuit of Happiness wurde
zu einem großen Teil das Glück des nächsten Einkaufs.
Kapitalismus gibt es auch in autoritären Regimen, aber
es gibt keine Demokratien ohne Kapitalismus. Man hat sich
miteinander verstrickt und voneinander profitiert: der Ka-
pitalismus von den Freiheiten, auch in der gezähmten Form
der sozialen Marktwirtschaft, die Demokratien vom Wohl-
stand, den sich die Bürger erwirtschafteten. Der hohe Le-
bensstandard wurde zum Argument des Westens im Kalten
Krieg. Seht, uns geht es besser als euch im Sozialismus.
Das Problem war und ist, dass dieses System nicht auf
Sättigung angelegt ist, sondern auf Steigerung. Im Kapita-
lismus ist Pursuit of Happiness das Glück des noch größe-
ren Einkaufs. Ohne Wachstum steigt die Arbeitslosigkeit,
sinkt der Wohlstand. Dieses Immermehr sitzt tief drin im
System. Zum Beispiel bemängelten Wirtschaftsexperten
lange, dass die deutsche Konsumquote zu niedrig sei. Shop-
ping stieg beinahe zum staatsbürgerlichen Akt auf. Kauft,
damit das System stabil bleibt, damit die Demokratien
glänzen. Das ist bis heute so geblieben, und vor allem des-
halb reagierten die Regierungen so spät und so schwach auf
den Klimawandel. Sie wollten den Wählern das Glück
nicht versauern und den Wirtschaftsstand-
ort stärken. Nun hat man ein Problem.
Eine Regierung kann nicht verordnen,
was glücklich macht und was nicht. Sie
kann dazu beitragen, die Wachstumsideo-
logie zu dämpfen, indem nicht jedes Plus
gefeiert und jedes Minus betrauert wird
und indem sie Strategien für Minuszeiten
entwickelt.
In erster Linie sind die Bürger gefor-
dert. Statt nach dem maximalen Konsum
zu streben, könnte jeder für sich definie-
ren, was das Minimum für ein schönes, glückliches Leben
ist. Auf den Rest, wenn es einen gibt, wird verzichtet. Das
sollte aber Privatsache sein, jeder so, wie er mag. Und
die Höhe des persönlichen Minimums entscheidet nicht
darüber, wer ein guter oder schlechter Mensch ist.

Opposition
Gott kennt keine Alternative, er ist einzig, er ist allmäch-
tig. So funktioniert im Prinzip Monotheismus. Im Himmel
gibt es keine Opposition. Wo absolute Wahrheiten verkün-
det werden, kann niemand dagegen sein, fast alle Engel
nicken immerzu. Genauso sollen sich die Untertanen in
totalitären Regimen verhalten. Die Wahrheit kommt von
oben, als Alternative zur Unterwerfung droht der Kerker.
Demokratien sind das Gegenteil. Alles muss umstritten
sein, sonst gehen sie zugrunde. Das wusste schon John
Stuart Mill, der empfahl, Alternativen zu erfinden, falls es
keine echten gab. Sonst schliefe der Diskurs ein.
Doch jetzt werden die Demokratien mit Aussagen kon-
frontiert, die für viele den Rang von absoluten Wahrheiten
einnehmen. Der Anstieg der Temperaturen, die errechne-
ten Folgen, die Unvermeidlichkeit einer Apokalypse, wenn
nicht rasch und entschieden gegengesteuert wird. Greta
Thunbergs Wutrede in New York, die Interviews ihrer An-
hänger von Extinction Rebellion oder »Fridays for Futu-
re« – da klang schon Erleuchtung durch höhere Erkenntnis
durch. Und der Anspruch auf Alternativlosigkeit.
Der aber ist gefährlich. Als Angela Merkel verkündet
hatte, ihre Eurorettungspolitik sei »alternativlos«, gründe-

te sich bald die AfD, die Alternative für Deutschland, zu-
nächst als Opposition zu Merkels Europolitik. Die Wissen-
schaftler Ivan Krastev und Stephen Holmes haben gerade
in dem Buch »Das Licht, das erlosch« beschrieben, dass
sich die illiberale Demokratie in Ungarn oder Polen auch
deshalb entwickelte, weil die liberale Demokratie nach
dem Fall des Eisernen Vorhangs als einzige Option galt.
Wenn jemand behauptet, es gebe keine Alternative, mo-
tiviert das freie Menschen, eine zu finden. Sagt in einer De-
mokratie jemand A, wird bald ein anderer B rufen. Meist
sind die Gesellschaften in der Mitte gespalten, 50:50 über
den Daumen, mal liegt eine knappe Mehrheit hier, mal
dort. Es gibt immer Sieger und Verlierer.
Wenn eine Demokratie gut funktioniert, ehrt sie ihre
Verlierer. Wer bei Wahlen unterliegt, wird zur Opposition
in den Parlamenten und dort mit besonderen Rechten aus-
gestattet. Ab jetzt hat er die edle Rolle, die Inhaber der
Macht zu kontrollieren, Allmacht zu verhindern. Dies ist
der wichtigste Unterschied zu autoritären Systemen, zu
einer Diktatur. Regierungen haben alle, wirksame Opposi-
tionen gibt es nur in Demokratien.
Aber wenn das Klimathema Religionscharakter hat, wenn
eine strenge Klimapolitik als unverzichtbar gilt, wo bleibt da
Raum für Opposition? Es sieht manchmal so aus, als würde
sie nicht geehrt, sondern diskreditiert. Das ist oft so bei Fra-
gen, die moralisch aufgeladen werden. Ich
bin gut, du bist böse. Schon beim Thema
Flüchtlinge hat man keine guten Erfahrun-
gen damit gemacht, Skeptiker zu stigmati-
sieren. Einige suchten Zuflucht bei der AfD.
Wenn das wieder geschieht, wählt ein
Teil der eingefleischten SUV-Fahrer oder
Mallorcaurlauber bald AfD und macht sie
noch stärker. Das Gegenteil ist aber auch
nicht besser. Wenn immer mehr Bürger,
vielleicht aus Angst vor den Folgen des Kli-
mawandels, grün wählen würden und die
Grünen irgendwann 70 oder mehr Prozent hätten, könnten
sie herrschen, ihre Macht missbrauchen, wenn sie das woll-
ten, ohne wirksame Kontrolle. Und eine Ökodiktatur wäre
nicht eine Diktatur nur in ökologischen Fragen, sondern
zwangsläufig eine in allen Fragen. Ist das irrelevant?
Das alles ist weit weg, klar. Aber es gibt nicht nur die
Dystopie einer aufgeheizten Erde. Es gibt auch die Dysto-
pie einer verkommenen Demokratie, die langsam ins
Totalitäre rutscht. Der Soziologe Harald Welzer sagte
dem »Tagesspiegel«: »Bevor ich in einer Diktatur lebe,
lebe ich lieber im Klimawandel.« Auch dies ist eine Alter-
native, die man diskutieren muss.
Insgesamt gilt: Selbst wer überzeugt ist, dass er recht
hat, sollte immer in einer Hinterstube seines Verstandes
mitbedenken, dass andere recht haben könnten. Wer
Sachfragen moralisch auflädt, macht es noch komplizier-
ter, Antworten zu finden. Auch beim Klimathema braucht
es eine Opposition, und sie verdient Respekt. Es wäre al-
lerdings hilfreich, würde sie sich nicht darauf beschränken,
den Klimawandel zu leugnen und jede Maßnahme für
überflüssig zu halten, wie die AfD.
Die Klimakrise ist zudem eine Chance, die Demokratie
zu vertiefen. Aber Expertenbeiräte, wie von manchen
Klimaschützern gefordert, sind kontraproduktiv, weil sie
wegführen vom repräsentativen Parlamentarismus, hin
zur elitären Technokratenrepublik. Klimaexperten haben
auch so genug Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen.
Sinnvoller sind Bürgerräte, die von den gewählten Poli-
tikern konsultiert werden müssten. Damit nicht nur die en-

DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019

Eine Ökodiktatur
wäre nicht nur eine
Diktatur in
ökologischen Fragen,
sondern in allen.
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