Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1
Deutschland

der Satz der Mutter zu denken, der bei
Ihnen im SPIEGELzitiert worden ist, der
erinnert mich auch an ein zu DDR-Zeiten
existierendes Bild von Israel: Da hieß es,
Israel steuere Dinge gemeinsam mit Ame-
rika. Dieses Bild gibt es in vielen extremen
politischen Richtungen.
Gabriel:Auch mein Vater hatte diese Nazi-
Ideologie verinnerlicht, nach der es so
etwas wie ein jüdisch-bolschewistisches
Finanzkapital gäbe, das die Deutschen
unterdrücke. Deswegen war für ihn Ame-
rika der Hauptfeind. Mein Vater war ein
Vertreter dieses alten, rechtsradikalen
Anti amerikanismus. Wir kennen den ja
von links, aber es gibt eben einen viel äl-
teren von rechts, der eigentlich gegen die
Moderne gerichtet war, gegen all das, was
da an Veränderung kommt.
SPIEGEL:Es gibt eine Gleichzeitigkeit des
Ungleichzeitigen: eine Aufgeschlossenheit
allem Modernen, Anderen gegenüber und
als Reaktion darauf eine Sehnsucht nach
Altem, auch nach altem Hass.
Haseloff:Das stimmt. Meine Kinder und
Enkelkinder waren in diesen Tagen in Is-
rael. Sie haben dort Jom Kippur gefeiert,
mit Muslimen, Juden und Christen zusam-
men. Und in ihrem Heimatland Sachsen-
Anhalt passiert gleichzeitig so etwas. Vor-
hin sind sie gelandet und haben angerufen,
sie sind tief betroffen.
Gabriel:Ja, es sind komplexe Zeiten, in
denen sich ein Antisemitismus auch gut
tarnen kann. Als ich als Außenminister in
Israel war, hatte ich einen Konflikt mit Mi-
nisterpräsident Benjamin Netanyahu. Er
wollte nicht, dass ich Bürgerinitiativen tref-
fe, die sich kritisch mit der Besetzung der
pa lästinensischen Gebiete befassen. Und
er drohte mit der Absage des vereinbarten
Gesprächstermins. Daraufhin habe ich ge-
sagt, es tut mir leid, ich werde diesen Ter-
min nicht absagen, weil ich mich nicht nö-
tigen lasse, mit wem ich rede und mit wem
nicht. Was passierte zu Hause? Ich kriegte
eine überwältigende Zustimmung. Wenn
Sie aber als Politiker in Deutschland zu
viel Zustimmung bekommen, wenn es
um Kritik an Israel geht, können Sie sich
nicht sicher sein, ob da nicht eine Menge
Leute dabei sind, die bewusst oder un -
bewusst antisemitisch eingestellt sind und
unter dem Deckmantel der Regierungs -
kritik an Israel eigentlich ihren Antisemi-
tismus verstecken.


Gewalt, Ideologie und dunkle Episoden der
deutschen Geschichte sind auch Themen
im Grenzmuseum in Sorge. Es ist im alten
Bahnhof untergebracht. Frau Winkel macht
die Führungen hier, sie zeigt Haseloff und
Gabriel die Ausstellungsstücke, sagt, eine
originale Kalaschnikow sei gestohlen wor-
den. Sie zu ersetzen und zu versichern koste
500 Euro. »Ach, auf dem Schwarzmarkt
gibt’s die billiger«, weiß Sigmar Gabriel.


SPIEGEL:Herr Haseloff, wie haben Sie in
der DDR gelebt?
Haseloff:Meine Familie und ich gehörten
zu einer Kirchengemeinde und hatten un-
ser Eigenleben. Die katholischen Gemein-
den hatten ja bis 1994 immer noch einen
Bezug nach Paderborn. Wir firmierten un-
ter dem Erzbistum Paderborn, bischöfliches
Kommissariat Magdeburg. Die Priester, die
uns großgezogen haben, sind alle vor 1961
geweiht worden und kamen zu 90 Prozent
aus dem Westen. Nach 1961 durften sie
nicht mal mehr zur Beerdigung ihrer Eltern.
Mein Pfarrer, der mich auch in die Politik
geschickt hat, kam aus Bochum, dessen Va-
ter hat die CDU mitbegründet. Wir waren
kirchlich gesamtdeutsch unterwegs.
SPIEGEL:Gläubige hatten es im atheisti-
schen Staat nicht leicht. Wie ging es Ihnen?

Haseloff:Ich war nicht zur Jugendweihe
und sollte deshalb nicht auf die Erweiterte
Oberschule gehen, die dem heutigen Gym-
nasium entsprach. Meine Mutter hat das
dann aber durchgekämpft, und es war
auch dadurch leichter, dass ich einen No-
tendurchschnitt von 1,0 vorzuweisen hat-
te. Es war eigentlich Zufall, dass meine El-
tern in der DDR gelandet waren. Mein
Vater war mit 17 noch in den Krieg einge-
zogen worden, war dann in Gefangen-
schaft in Frankreich, hatte dort sogar eine
Arbeitserlaubnis, eine Stelle in einem
Säge werk. Zum 50. Geburtstag seiner
Mutter wollte er zu Besuch nach Witten-
berg reisen. Auf der Rückfahrt nach Frank-
reich verspätete sich der Zug zurück in
den französischen Sektor von Berlin. Er
ging in eine Gaststätte, in der zufällig Kar-
neval gefeiert wurde, dort lernte er meine
Mutter kennen und blieb, unerlaubt, mit

ihr in Wittenberg. Ab 1961, also nach dem
Mauerbau, begann jedes Abendessen mit
der Bemerkung: Ach, wäre ich doch in
Frankreich geblieben.
SPIEGEL:Herr Gabriel, wie verschlug es
Ihre Familie auf die Westseite des Harzes?
Gabriel:So wie Sie zufällig in Ostdeutsch-
land geboren wurden, Herr Haseloff, bin
ich zufällig in Westdeutschland geboren.
Meine Mutter kommt aus Ostpreußen und
arbeitete bei Kriegsende als Kranken-
schwester in Halle. Als es hieß, jetzt kom-
men die Russen, sagte sie, ich hau hier ab.
Damals waren es schon Deutsche, die die
Grenze kontrollierten, und sie wurde bei
Eckertal zwischen Stapelburg und Bad
Harzburg erwischt. Einer der Männer er-
kannte sie und fragte: »Sind Sie nicht
Schwester Toni?« So nannten die verletz-

ten Soldaten meine Mutter im Lazarett,
und sie hatte diesen Mann offenbar einmal
gepflegt. Und dann sagte er: »Wenn ich
die Mütze abnehme, laufen Sie da rüber.«
So kam sie in den Westen – sonst wäre ich
wohl in Halle geboren worden.
Haseloff:Den Ossi und den Wessi gibt es
gar nicht, denn es ist ein großer Zufall ge-
wesen, wo jemand gelandet ist.
SPIEGEL:Heute würde man sagen, Ihre
Eltern sind vom Krieg und den Folgen trau-
matisiert worden.
Gabriel:Das war auch so. Bei uns ist zum
Beispiel über die Geschichte der Frauen
auf der Flucht, die Vergewaltigungen erst
spät geredet worden, als das Buch »Ano-
nyma« erschien, das von solchen Erfah-
rungen erzählte.
Haseloff:In unseren Familien wurde so
etwas schon erzählt. Wir fragten immer:
»Warum hat Tante Hilde keine Kinder?«

50 DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019


SONJA OCH / DER SPIEGEL
Wanderer Haseloff, Gabriel: »Das beste Deutschland, das wir je hatten«
Free download pdf