Hörten aber als Jugendliche letztendlich
doch immer nur bestimmte Andeutungen.
Gabriel:Eine meiner Tanten konnte keine
Kinder mehr bekommen, weil sie so oft
vergewaltigt wurde. Eine Cousine blieb in
ihrer körperlichen Entwicklung stehen.
Aber sie erzählten auch von ihrer Rettung:
Einer der russischen Vergewaltiger wurde
von einem russischen Offizier vor ihren
Augen als Strafe für seine Taten erschos-
sen. Das rettete wohl ihr Leben.
SPIEGEL:Wie lebt man mit solchen Bil-
dern?
Haseloff:Man verdrängte die und stürzte
sich in Arbeit.
Draußen vor dem Bahnhofshäuschen hält
mehrmals am Tag die Brockenbahn, ein
Zug mit Dampflok, der die Touristen auf
den Brocken, den höchsten Berg im Harz,
bringt. Schnaufend und stampfend fährt
die Lok ein, sie sieht aus wie zu Kriegs -
zeiten, nur frisch geputzt.
Die Touristen auf dem Bahnsteig haben
Jahrzehnte des Friedens hinter sich, die
deutsche Einheit gelang, doch die Häuser,
das Grenzmuseum und auch das Ge-
spräch heute zeigen, dass Geschichte nicht
verschwindet, dass sie sich immer neu
mit der Gegenwart verbindet. Gabriel
und Haseloff treten raus auf den Bahn-
steig, und wieder ist das Attentat von
Halle Thema. Ein Angriff auf Juden in
einer Synagoge in Deutschland – nun
doch wieder? Und das auch noch in Ost -
deutschland?
Gabriel: Es ist wirklich eine Vereinfachung
zu sagen, die Ostdeutschen hätten aus sich
heraus ein Problem mit dem Rechtsradi-
kalismus. Als ich junger Sozial demokrat
war, gab es eine ziemlich aktive rechts -
radikale Szene in meiner Heimatstadt. De-
ren Anführer war vorbestraft. Was machte
der nach der deutschen Einheit? Er ging
nach Ostdeutschland und wurde später in
Sachsen Mitarbeiter der NPD-Landtags-
fraktion. Die Menschen mit ihren objekti-
ven Problemen, die im Osten durch die
Wende entstanden sind, sind doch auch
oft ausgenutzt worden, und solche Agita-
toren der Neonazi-Szene versuchten, da-
raus Kapital zu schlagen.
Haseloff:Sie müssen sich nur ansehen,
wie viele Wortführer der AfD aus dem
Westen im Osten aktiv sind.
SPIEGEL:Das ist sicher nicht die einzige
Erklärung. Warum gibt es im Osten ein re-
lativ großes rechtes Wählerpotenzial?
Haseloff:Es gibt die bruchhaften Biogra-
fien, die eher Protest erzeugen, das ist das
eine. Und das andere ist die Angst einer
Mittelschicht, die nach der Wende wieder
auf die Füße gekommen ist, vor dem Ab-
stieg. Die blauen Wahlkreise bei mir im
Bundesland sind eben nicht die mit der
höchsten Hartz-IV-Quote – die haben wir
tung Niedersachsen auf dem sogenannten
Kolonnenweg, der mit Lochplatten aus Be-
ton ausgelegt ist. Durch die Löcher wächst
Unkraut, durch die die Platten fest im Bo-
den verwurzelt sind. Die DDR-Grenztrup-
pen sollten mit ihren Fahrzeugen die
Grenzanlagen schnell erreichen können.
Heute nutzen Wanderer und Mountain-
biker den Weg. An vielen Nadelhölzern
rechts und links fehlt das Grün, sie sehen
aus wie angeknabbert und sind es auch,
der Borkenkäfer macht ihnen zu schaffen.
SPIEGEL:Am Tag des Attentats auf die
Synagoge in Halle ist anderswo der Mau-
erproteste vor 30 Jahren gedacht worden.
Auch der 9. November ist so ein Tag, an
dem sich viele Deutsche über den Fall
der Mauer freuen, sich aber auch an die
Pogromnacht von 1938 erinnern, in der
die Synagogen brannten. Die großen deut-
schen Themen – die guten, die schlech-
ten – kreuzen sich.
Haseloff:Ja, und auf dieses Jahr trifft
das besonders zu. Wir werden am 9. No-
vember den offiziellen Baustart für die
Synagoge in Dessau geben und auch den
Grundstücksvertrag mit der jüdischen Ge-
meinde Magdeburg an den Bauherrn über-
geben, sodass es in Sachsen-Anhalt zwei
neue Synagogen geben wird, die mit dem
Datum verbunden sind. In Dessau wird
dann wieder die Synagoge von Nathan
dem Weisen errichtet. Den Wenigsten ist
bewusst, dass Nathan der Weise ein reales
Vorbild hatte, nämlich den Philosophen
Moses Mendelssohn, der in Dessau ge -
boren und groß geworden ist.
SPIEGEL:»Nathan der Weise« heißt ein
Stück von Gotthold Ephraim Lessing. Es
ist das berühmteste deutsche Drama über
die Toleranz.
Gabriel:Ja, aber wo ist denn »Nathan der
Weise« geschrieben worden?
Haseloff:Wahrscheinlich bei Ihnen im
heutigen Niedersachsen.
Gabriel:Genau! In Wolfenbüttel! Lessing
war Bibliothekar der Herzog August Bi-
bliothek und schrieb sein Drama dort.
Auf halber Höhe hat man einen weiten
Blick über den Harz, auf Wälder und
Lichtungen, die Laubbäume verfärben sich
schon. In der Ferne zeichnen sich zwei
hohe Berge ab, die sich gegenüberliegen.
SPIEGEL:Sie sind stehen geblieben, Herr
Gabriel, warum?
Gabriel:Weil ich Ihnen etwas zeigen will.
Dort drüben sehen Sie den Wurmberg, der
lag im Westen. Und da gegenüber ist der
Brocken, der lag im Osten. Wir fuhren als
Kinder auf den Wurmberg und guckten
auf den Brocken und waren uns eigentlich
sicher, dass wir da nie würden hinkommen
können! Ich fand übrigens in meiner Ju-
gend den Teil der politischen Linken im-
51
»Auch mein Vater
hatte diese Nazi-
Ideologie verinnerlicht,
gegen all das, was
an Veränderung kommt.«
Sigmar Gabriel
Brocken
Halle
Magdeburg
NIEDERSACHSEN
Goslar SACHSEN-ANHALT
Hohegeiß Sorge
ehemaliger Grenzverlauf
50 km
nämlich als Union geholt bei der letzten
Landtagswahl –, sondern Regionen wie
der Speckgürtel um Halle. Hier braucht es
mehr staatspolitische Verantwortung der
einzelnen Bürgerinnen und Bürger, die
Demokratie aus der Mitte stabil zu halten,
statt sie durch dieses Wahlverhalten weiter
zu destabilisieren.
Gabriel:Ja, aber die Politik ist eben auch
gefragt, nicht nur das private Umfeld und
die Familie. Wenn man sich überlegt, was
wir im Ruhrgebiet alles gemacht haben,
um den Strukturwandel abzufedern! In
Ostdeutschland ist zwar auch enorm inves-
tiert worden, aber zugleich wurde hier ein
riesiges Experimentierfeld für Niedriglöh-
ne geschaffen. In der Hoffnung, niedrige
Löhne würde neue Arbeitsplätze anziehen.
Tatsächlich aber haben die jungen und gut
qualifizierten Arbeitnehmer das Weite
gesucht. Wer da blieb, bekommt jetzt auf-
grund von 30 Jahren schlechter Löhne zum
Dank auch noch miese Renten. Wir stehen
doch gerade in Ostdeutschland am Anfang
der Altersarmut. Das ist einer der Gründe,
warum ich für eine Grundrente bin, die
deutlich über der Armutsgrenze liegen
muss. Wenigstens im Alter muss die Le-
bensleistung gerecht entlohnt werden.
Haseloff:Das stimmt. Ich war nach der
Wende zehn Jahre Direktor des Arbeits-
amtes Wittenberg, wir hatten mehrere Jah-
re hintereinander eine Unterbeschäftigung
von rund 50 Prozent. Das kann man sich
im Westen überhaupt nicht vorstellen.
Trotz aller Erfolge und Annäherungen
werden wir im Osten zwei Generationen
brauchen, um das alles zu verarbeiten. Bis
zum Ende des Jahrhunderts wird in vielen
Statistiken die alte DDR-Grenze auf den
Zentimeter genau abgebildet sein.
Es geht den Berg hinauf von Sorge Rich-
tung Hohegeiß, von Sachsen-Anhalt Rich-