Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1
65

A


m vergangenen Montag schickte mir meine Tochter
eine WhatsApp. Es war eine Meldung von SPIEGEL
ONLINE, sie trug die Überschrift: »Kettcar-, Fahrrad-,
Sportgeräte- und Gartenmöbel-Hersteller verkündet endgül-
tiges Aus«.
Dazu stellte sie die Frage: »Kann man da nicht jetzt richtig
Schnäppchen machen?«
Kettler pleite? Gartenstühle oder eine Tischtennisplatte
im Abverkauf, warum nicht? Ich hatte zunächst denselben
Reflex.
Doch dann stellte ich fest, dass mich die Meldung aufwühl-
te. Für mich ist Kettler nicht eines dieser 20 000 Unterneh-
men, die jedes Jahr in Deutschland Insolvenz anmelden müs-
sen. Für mich steht dieser Betrieb
beispielhaft für den Erfindergeist
von Familienunternehmen, für
deutsche Wertarbeit. Der Unter-
gang gerade dieser Firma ist der
Schlussakkord einer Familien -
tragödie, die mich mein Leben
lang begleitet hat.
Dabei hatte ich nicht einmal
ein Kettcar, anders als viele Hun-
derttausend Kinder in Deutsch-
land. Dass Generationen von
Jungs ihre Kindheit mit dem Be-
mühen verbracht haben, sich ein-
mal auf zwei Rädern des Kettcar
im Kreis zu drehen, weiß ich nur
aus Erzählungen. Oder die Re-
kordversuche: Wie viele Kinder
können gleichzeitig auf einem
Kettcar mitfahren?
Meine Beziehung zu Kettler
hängt mit meiner Herkunft zu-
sammen: Ich bin in Werl aufge-
wachsen, sieben Kilometer vom Stammwerk entfernt. Jeder
kannte jemanden, der dort arbeitete.
Später ging Heinz Kettler, der Sohn des Firmengründers,
einige Jahre lang in meine Klasse. Nach dem Unterricht spiel-
ten wir auf dem Schulhof gemeinsam Fußball. Er war ein
ganz normaler Junge. Nur als er mal vom Musiklehrer eine
Ohrfeige einsteckte und der Lehrer sich am nächsten Tag
vor der ganzen Klasse mit einer Tafel Schokolade entschul-
digen musste, bekamen wir eine Ahnung von der Macht des
Ka pitals.
Einmal machten wir einen Klassenausflug ins Kettler-Werk.
Vater Kettler führte uns und erklärte, ich habe vergessen,
was. Was mich beeindruckte: wie ergeben die Leute mit ihm
sprachen.
Heinz Kettler junior, der ein paar Jahre lang mein Klas-
senkamerad war, sollte später die Firma übernehmen. Wir
waren neidisch, als er mit 18 Jahren einen Golf GTI bekam.
Einige Zeit später fuhr er sich mit einem Auto tot.
Ein Schicksalsschlag für die Familie; unternehmerisch
glückte Kettler senior weiterhin alles – das Markenzeichen,
das er geschaffen hatte, war unbezahlbar. »Kettcar« steht bis
heute für Tretautos wie »Tempo« für Papiertaschentücher,

das Wort schaffte es sogar in den Duden: »Kettcar, der oder
das, ein Kinderfahrzeug«. 15 Millionen Stück wurden davon
hergestellt.
Kettler exportierte in mehr als 60 Länder, hatte weltweit
bis zu 3500 Mitarbeiter. Er produzierte als erster Alu-Fahr-
räder, berühmt waren seine Hometrainer und andere Fitness-
geräte. Als Kettler erkannte, wie gern die Deutschen draußen
sitzen, expandierte er ins Gartenmöbelgeschäft.
Privates drang kaum je nach draußen. Die Familie prahlte
nicht mit ihrem Reichtum. In der Gegend redete man allen-
falls darüber, dass das Verhältnis des Vaters zu seinem zwei-
ten Kind nicht gut gewesen sein soll. Karin Kettler studierte
dann Biologie.
Als mich meine Eltern das erste Mal in Hamburg besuchten,
brachten sie mir vier Kettler-Gartenstühle aus der Modellreihe
»Tiffany« mit. Das ist jetzt 30 Jahre her. Jedes Frühjahr holen
wir die weißen Kunststoffdinger aus dem Keller, spritzten sie
kurz ab und stellen sie auf die Terrasse. Schon oft haben wir
überlegt, uns mal eine neue Garnitur anzuschaffen – Tiffany
ist etwas altbacken, ein Plastikmonument deutscher Freizeit-
gemütlichkeit. Aber Tiffany ist unkaputtbar. Und wer bringt
schon gern intaktes Mobiliar zum Recyclinghof?
Vermutlich ist Tiffany ein
Grund für den Abstieg von Kett-
ler. Massenware muss sich abnut-
zen, damit die Kunden einen
Grund haben, etwas Neues zu
kaufen. Kettler setzte auf Quali-
tät. Auch deshalb ließ die Firma
zu lange in Werl und Umgebung
produzieren, während die Kon-
kurrenten ihre Waren längst in
Asien herstellen ließen.
Was dem Chef zu Hause viele
Mitarbeiter hoch anrechneten,
gefährdete die Zukunft des Unter-
nehmens. Andere Fehler kamen
hinzu. Der Betrieb wuchs zu
schnell, Kettler schaffte es nicht,
seine breite Produktpalette zu ver-
schlanken. Er verschlief Trends
und fand zu spät einen Nachfol-
ger – ein Schicksal, das er mit
vielen Gründern der Nachkriegs-
zeit teilt.
Kurz vor seinem Tod, 78-jährig, holte er seine Tochter
Karin doch noch in die Firma. 2005 war das, zu spät. Kettler
schwächelte bereits. Die neue Chefin war unerfahren,
sie verdribbelte sich im Geschäft mit Banken und Beratern.
Sie habe das Erbe ihres Vaters bewahren wollen, hieß es. Sie
verspielte es.
Karin Kettler starb vor zwei Jahren bei einem Unfall, ihr
Auto, schrieb die Lokalzeitung, sei mit einem Dachs kollidiert.
Zu dem Zeitpunkt hatten die Kettlers in ihrem eigenen Werk
schon nichts mehr zu sagen.
In Werl und Umgebung hat Kettler vier Niederlassungen.
Ich rief meine Mutter an, ich wollte wissen, wie die Menschen
über das Aus denken. Ach, sagte sie, das Ende habe sich
doch schon lange abgezeichnet. Sie schickte mir einen Artikel
aus der Lokalzeitung: »Viele Mitarbeiter vergleichen Gang
zur Betriebsversammlung mit Gang zur Beerdigung«, steht
dort.
Wir sprachen über die Haltbarkeit unserer Tiffany-Stühle.
Meine Mutter war nicht überrascht. Zu Hause, sagte sie, hät-
ten sie noch Kettler-Stühle im Gebrauch, die 45 Jahre alt
seien. Sie würden sogar noch die ersten weiß-roten Auflagen
benutzen. Udo Ludwig

Unkaputtbar


HomestoryWie mich die Firma Kettler
durch mein Leben begleitete

Illustration: Thilo Rothacker für den SPIEGEL

Free download pdf