Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1

haft beraten werden. Tatsächlich war nie-
mand bei der Sache, alle dösten vor sich
hin oder schrien einander an. Es handelte
sich um den 1. Marquess of Dufferin and
Ava, der später die Politik verließ und Vi-
zekönig von Indien wurde.
SPIEGEL: Viel hat sich seither nicht ge -
ändert.
Stewart: Heute tippen alle auf ihrem
Mobiltelefon rum. Meine erste Rede war
über Afghanistan, wo ich sieben Jahre
lang gearbeitet und über das ich ein paar
Bücher geschrieben habe. Ich hielt das
für meine große Chance, zu etwas wirk-
lich Wichtigem beizutragen. Dann durfte
jeder nur vier Minuten sprechen, und
kaum einer hörte zu. Ich habe das noch
nie für den klügsten Weg gehalten, eine
Diskussion zu führen. Und das war lange
bevor der Brexit uns auseinanderge -
trieben hat.
SPIEGEL:Zerfällt die britische Politik?
Stewart:Beide großen Parteien sind von
Extremisten in Geiselhaft genommen wor-
den. Und das scheint von Dauer zu sein.
Ich glaube nicht, dass Labour oder die
Konservativen wieder zurück in die Mitte
kommen werden.
SPIEGEL:Weshalb Sie nun das Zentrum
besetzen wollen?
Stewart: Wir müssen die Leute wieder
davon überzeugen, dass die politische
Mitte ein mutiger, realistischer und
fortschritt licher Platz ist. Und wir müssen
ihnen sagen, dass sie die Probleme nur
schlimmer machen, wenn sie ver langen,
dass ihnen Politiker Märchen erzählen.
SPIEGEL:Die Sie sich weigern zu erzählen?
Stewart:Natürlich wird der Druck groß
sein, im Wahlkampf um London eine
schicke neue Vision zu bewerben, nach
dem Motto: »Ich mache London in fünf
Jahren zu Kopenhagen«. Das werde ich
aber nicht versuchen. Ich will dafür sorgen,
dass die U-Bahn etwas weniger überfüllt
ist und dass weniger Kinder auf den Stra-
ßen er stochen werden. Der wirkliche
Kampf, dem wir uns stellen müssen, ist
der gegen Inhaltsleere. »Ich bin für Nach-
haltigkeit«, »Gleichheit ist mir wichtig«,
»Der Sparzwang muss aufhören« – große
Worte, aber nichts als Floskeln.
SPIEGEL:Was Sie sagen, ist verdächtig nah
am populistischen Credo: Die Politik ist
kaputt, das Parlament repräsentiert nicht
das Volk, die Demokratie funktioniert
nicht.
Stewart:Manches von dem, was Popu -
listen sagen, ist ja auch völlig richtig. Wenn
Sie einen klassischen Mitte-Politiker fra-
gen: »Was machen Sie gegen Messerste-
chereien?«, wird er sagen: »Nun, wir
müssen das multidimensionale Trauma
bekämpfen, indem wir uns über eine Ana-
lyse des öffentlichen Gesundheitswesens
den Wurzeln des Problems nähern.« Der
Populist sagt: »Es ist eine Schande, Ihre


Sicherheit ist gefährdet, wir werden das
ändern.« Das ist die korrekte Antwort.
Um die Mitte wiederzubeleben, werde ich
versuchen, die Sprache, die Wut und die
Energie der Populisten für eine ausge -
wogene Politik zu nutzen.
SPIEGEL:Und wie wollen Sie das anstellen?
Stewart:Ich werde nicht nur sagen: »Wir
sind nicht sicher, das ist eine Schande.«
Ich werde anschließend alle notwendigen
bürokratischen Schritte in die Wege leiten
und Experten ihre Arbeit machen lassen.
Das Problem mit den Zentristen ist, dass
sie keine Überzeugungstäter sind. Viele
derer, die jetzt in Boris Johnsons Kabinett
sitzen, waren mal große Anhänger der
politischen Mitte, aber nur solange sie
dachten, dass dort die meisten Wähler -
stimmen zu holen sind. Als die Wähler an
die extremen Ränder wanderten, sind sie
mitmarschiert.
SPIEGEL:Vielleicht sind die Wähler des-
halb an die Ränder gewandert, weil sich
die Parteien in der Mitte zu ähnlich gewor-
den sind.

Stewart:Ich bin davon überzeugt, dass
das zentristische Modell weitgehend funk-
tioniert hat. Wir haben damit in den letz-
ten 40 Jahren unglaubliche Fortschritte
gemacht. Ich bin kein Revolutionär. Ich
glaube nicht, dass die Leute von »Extinc -
tion Rebellion« oder »Occupy Wall
Street« unser Leben ganz plötzlich besser
machen können. Oder dass Jeremy Cor-
byns Pläne unsere Wirtschaft auf unge-
ahnte Weise voranbringen werden. Und
offen gestanden halte ich auch für extrem
gefährlich, was Boris Johnson mit Europa
macht. Aber klar, Populisten haben es ein-
fach, weil sie den Leuten das Blaue vom
Himmel versprechen können und selt -
samerweise nie dafür bestraft werden,
wenn sie daran scheitern. Boris ist fantas-
tisch darin.
SPIEGEL:Die Menschen halten ihn für lus-
tig und energisch, auch wenn er lügt.
Stewart:Ja, und gleichzeitig finden sie
Zentristen langweilig. Als ich 2010 anfing,
haben alle in meinem Wahlkreis gefragt:
Was ist nur mit der britischen Politik los,
sie ist so viel langweiliger als damals mit
Michael Foot und Mrs Thatcher und Enoch
Powell – alle Giganten der Siebzigerjahre
sind weg. Meine Antwort war: Gott sei
Dank! Diese Leute lagen nicht nur falsch,
sie waren auch gefährlich. Ich halte die Lan-
geweile für eine Errungenschaft. Politik ist
kein Spiel, sie ist keine Fernsehshow.

SPIEGEL:Ihr Ziel ist also, Politik wieder
langweilig zu machen?
Stewart: Na ja, nicht ganz. Ich will kom-
plizierte Details so lebhaft und interessant
und emotional wie möglich erklären.
SPIEGEL:Soll London Ihr Labor für eine
neue Mitte-Partei werden?
Stewart:London wird ein Anfang sein.
Aber wenn, dann wird daraus nur eine Par-
tei für London entstehen, nach dem Vor-
bild von Regionalparteien in Indien. Es
gibt dafür kein britisches Vorbild. Wenn
man wirklich etwas ändern will, muss man
mit Lokalpolitik anfangen.
SPIEGEL:Werden Sie sich für Ihr Ziel, ähn-
lich wie seinerzeit in Afghanistan und an
der schottischen Grenze, wieder die Füße
platt laufen?
Stewart:Na klar. Ich will bis Weihnachten
alle 32 Londoner Stadtbezirke abgelaufen
haben. Ich muss ein Heer von Freiwilligen
aufbauen und über soziale Medien zahl-
lose junge Menschen auf meine Seite
ziehen. Das ist meine einzige Chance, die
anderen Parteien zu schlagen. Ich muss
ungewöhnliche Koalitionen schmieden:
zwischen nigerianischen Wählern aus
Peckham und weißen Arbeitern aus Red-
bridge. Und ich muss glaubhaft erklären,
wie wir in den nächsten sechs Jahren eine
halbe Million neue Häuser in London bau-
en können.
SPIEGEL: Sie stammen aus privilegierten
Verhältnissen, wurden in Eton erzogen.
Wie wollen Sie mit dieser Biografie gegen
Amtsinhaber Sadiq Khan, den Sohn eines
Busfahrers, bestehen?
Stewart:Seine Geschichte ist wundervoll
und verdient jeden Respekt. Aber ich
glaube nicht an Identitätspolitik, die hilft
nicht. Die Frage ist, wer London in den
kommenden vier bis acht Jahren voran-
bringen kann.
SPIEGEL:Sorgen Sie sich um die Zukunft
des Vereinigten Königreichs? Wird es nach
dem Brexit auseinanderbrechen?
Stewart:Die Gefahr besteht. Und hier
zeigt sich wieder einmal das Problem mit
extremistischer Politik: Es ist ganz ein-
fach zu sagen, lasst uns Schottland von
England abtrennen. Da haben die schotti-
schen Nationalisten und die Brexit-Hard-
liner etwas gemeinsam. Sie denken, das
Leben werde einfacher, wenn man Bezie-
hungen abbricht und Grenzen zwischen
sich und den anderen errichtet. Dabei ist
es in Wahrheit doch so, dass wir erst durch
Beziehungen existieren und dass wir
umso besser werden, je mehr wir uns mit
den seltsamen Marotten und Wider-
sprüchlichkeiten von anderen herumpla-
gen müssen. Deswegen war ich auch im-
mer der Ansicht, dass es dem Vereinigten
Königreich innerhalb der Europäischen
Union besser geht.
Interview: Jörg Schindler

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Ausland

»Ich halte Langeweile
für eine Errungen-
schaft. Politik ist keine
Fernsehshow.«
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