Handelsblatt - 21.10.2019

(Brent) #1
Paul Collier:
Sozialer
Kapitalismus!
Mein Manifest
gegen den
Zerfall unserer
Gesellschaft
Siedler,
München 2019,
320 Seiten,
20 Euro

Wirtschaftsbuchpreis 2019
MONTAG, 21. OKTOBER 2019, NR. 202


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Ersatz gibt für die freie Meinungsbildung“, sagte er


in seinen Dankesworten. „Man kann eine Gesell-


schaft spalten und mit ein paar Zeichen auf Twitter


rückwärtsgewandt denken lassen, das ist einfach,


aber um eine vorwärtsdenkende Informationsge-


sellschaft zu schaffen, braucht es mehr als 86 Zei-


chen. Dazu braucht man Bücher“, sagte er.


Der Kapitalismus sei nach wie vor die beste Wirt-


schaftsform, sagte er zu seinem Buch. Doch die so-


ziale Kluft zwischen Menschen mit einer guten Bil-


dung und den Abgehängten werde seit rund 40


Jahren immer größer. Das sei die größte Gefahr für


die Gesellschaft (siehe Interview auf dieser Seite).


Auch auf der Frankfurter Buchmesse am Tag


nach der Preisverleihung erläuterte Paul Collier bei


einer Podiumsdiskussion sein Plädoyer für einen


sozialen Kapitalismus und erklärte, was er mit sei-


nem Begriff „Rottweiler-Gesellschaft“ meint: „Der


moderne Kapitalismus, der uns Wohlstand ver-


sprochen hat, erzeugt gegenwärtig Aggression, De-


mütigung und Furcht. Wir müssen wieder lernen,


uns gegenseitig mit Achtung zu begegnen.“


Als würde es eines weiteren Beweises bedürfen,


dass die Umbrüche in der Gesellschaft das große


Debattenthema des Jahres sind, lieferte der Politik-


wissenschaftler und Autor Herfried Münkler in sei-


ner Rede zum Auftakt des festlichen Abends eine


kongeniale Ergänzung. Er entschlüsselte die Zei-


chen der Zeit und sprach über den Zusammenhalt


der Gesellschaft in Zeichen immer größerer Indivi-


dualität und über soziale Auf- und Abstiege: Das


seien Veränderungen, die in der Gesellschaft längst


stattfänden, während die Politik dem in einer Mi-


schung aus Erstaunen und Tatenlosigkeit gegen-


überstehe (siehe Dokumentation auf der nächsten


Seite).


Das bot viel Stoff für intensive Diskussionen nach


der Preisverleihung. Wie auch die Einschätzung


von Wolfgang Fink zum Standort Deutschland. „Da


kommt eine beträchtliche Welle auf uns zu“, sagte


der Deutschlandchef von Goldman Sachs, ein Mit-


glied der Jury, zu den Umbrüchen. Er fuhr fort:


„Aber wir haben schon große Krisen und Umstel-


lungen gemeistert in unserem Land. Das Potenzial


ist da, und vieles, was wir tun, tun wir richtig und


auch gut.“ Die Energie-, Mobilitäts- oder Digital-


wende komme schon morgen. Fink ist überzeugt:


„Wir haben eine Chance, und wir sollten optimisti-


scher sein.“


Kein Platz für Pessimismus also. Das meinte auch


Buchmessenchef Juergen Boos, ebenfalls Jurymit-


glied. Er sprach über die kommende kreative Revo-


lution, die die Buchbranche ausgerufen hat: „Wir


müssen uns wieder einmischen als Individuum


und an Debatten teilnehmen. Aktives Zuhören ist


der große Traum.“


Paul Collier


„Wir sollten experimentieren“


D


as schreibt Paul Collier in
seinem neuen Buch und
entwickelt eine Art Gegen-
programm. Nötig ist ein sozialer Ka-
pitalismus mit ethisch fundiertem
Bewusstsein für das Gemeinwohl,
findet der Bestsellerautor von der
University of Oxford.

Sir Paul, wie sollen wir mit den
neuen Ängsten in der Gesellschaft
umgehen, die Sie diagnostizieren?
Was ist daran so gefährlich?
In den vergangenen 40 Jahren liefen
zwei Dinge schief mit dem Kapitalis-
mus, wobei ich auch sage, dass er
grundsätzlich das einzige System ist,
das in der Lage ist, unseren Lebens-
standard zu erhalten. Aber er funk-
tioniert eben nicht per Autopilot. In
den 80er-Jahren des vorigen Jahr-
hunderts lief er aus der Spur, und es
haben sich zwei tiefe Verwerfungen
in der Gesellschaft gebildet.

Welche waren das?
Zum einen war das die räumliche
Spaltung zwischen Metropolen und
ländlichen Regionen, die abgehängt
wurden. In Großbritannien vergrö-
ßerte sich die Spaltung zwischen
dem Großraum London und der
Provinz. Als ich aufwuchs in Shef-
field, gab es wie in den anderen Re-
gionalstädten seit 200 Jahren keine
großen Unterschiede im Einkom-
men. Dann änderte sich das, auch
als Folge der Globalisierung.

Und die zweite Verwerfung?
Das war die neue Divergenz der
Klassen. Zu meiner Zeit zählte, was
man verdient oder geerbt hatte.
Dann kam die Klassifizierung durch
Erziehung. Wer eine gute Ausbil-
dung hatte, stieg auf. Wer das nicht
hatte und auch noch aus der Pro-
vinz kam, fuhr im sozialen Fahr-
stuhl nach unten.

Würden Sie das als Verfall bezeich-
nen, oder ist der Ausdruck zu
stark?
Ja, es ist Zerfall. Denn es wurde
nichts getan, um die Unterschiede
zu beheben. Die Kluft wurde tiefer.
Die begabten, jungen Leute aus der
Provinz hatten nur ein Ziel: nichts
wie weg von hier! Das verstärkte
das Gefühl von Aussichtslosigkeit.
Und das sehen wir in ganz Europa
und in den USA.

Gibt es eine Lösung?
Ja, technisch ist eine Überwindung

der Verwerfungen möglich. Und das
ist nicht einmal schwierig. Ein Pro-
blem ist es aber, ein nach vorn
schauendes gemeinsames Ziel der
Gesellschaft zu identifizieren, des-
halb schreibe ich im Buch über Mo-
ral. Denn wir haben den Sinn für
ein ethisch fundiertes Bewusstsein
für das Gemeinwohl verloren. Die
Erfolgreichen sollten ihren Erfolg
nutzen, um ihren Beitrag dazu zu
leisten. Alle wollen doch eine besse-
re Zukunft für ihre Kinder.

Sie schreiben von der „Rottweiler-
Gesellschaft“. Was meinen Sie da-
mit?
Der moderne Kapitalismus, der uns
Wohlstand versprochen hat, er-
zeugt gegenwärtig Aggression, De-
mütigung und Furcht. Wir müssen
wieder lernen, uns gegenseitig mit
Achtung zu begegnen. In Deutsch-
land ist das Phänomen der „Rott-
weiler-Gesellschaft“ weniger stark
als in Großbritannien. Die Politik ist
dezentral, die lokalen Gemeinden
sind stark und heimatstolz.

Und die Unternehmen? Merken die,
dass etwas falsch läuft? Sind sie
lernfähig? Immerhin beginnt ja ein
Umdenken in die Richtung, nicht
allein an Profit zu denken, sondern
an die Stakeholder.
Nun, alle Unternehmen haben das
Problem der Rekrutierung junger
Menschen. Und diese sind eben
nicht gierig und egoistisch. Es müss-
te doch das Ziel der Unternehmen
sein, dem Nachwuchs eine Karriere-
möglichkeit zu geben. „Wir machen
nichts als Geld“ war der Slogan der
US-Investmentbank Bear Stearns,
die in der Finanzkrise fast pleite-
ging. „Geld für uns“, füge ich hinzu.
Das ist keine gute Idee für ein Un-
ternehmen. Sie müssen dagegen ge-

währleisten, dass es jenseits des
Profits noch ein Ziel gibt.

Langsam mischt sich der Einzelne
ein, etwa bei Hauptversammlun-
gen oder wenn es um das Klima
geht. Inwieweit entspricht das dem
Modell des Kommunitarismus, von
dem Sie schreiben?
Ich bin auch Pragmatiker. Wir soll-
ten experimentieren und lernen,
statt von Ideologen geleitet zu wer-
den. Und wir sollten territorial den-
ken an dem Platz, wo wir sind. Das
bringt die Menschen wieder zusam-
men. Beim Glauben oder bei politi-
scher Überzeugung geht das nicht.

Sie schlagen vor, dass die Einwoh-
ner von Metropolen eine höhere
Steuer auf Grund- und Hausbesitz
zahlen und die Einnahmen dann in
Strukturförderung fließen. Aber
die Städter haben schon genug ho-
he Lasten. Ist das fair?
Nehmen wir London, die Gegend
mit dem höchsten Pro-Kopf-Ein-
kommen in Großbritannien, viel-
leicht in ganz Europa. Die Stadt hat
eine sehr ungleiche Verteilung der
Einkommen. Es gibt die Reichen,
deren Vermögen weiter ansteigt,
und ein Prekariat, das schlecht
über die Runden kommt. Die Rei-
chen müssen jetzt mehr Steuern
zahlen.

Also müssen die Hausbesitzer ran?
Ja. Ich sage es nicht gern. Aber ich
habe in den vergangenen Jahren
mehr Geld verdient an den Kapital-
gewinnen meiner Immobilien, als
Oxford mir als Professor gezahlt
hat. Das ist doch verrückt.

Sind höhere Steuern nicht auch
verrückt?
Es geht nicht um Umverteilung,
nicht darum, dass die Erfolgreichen
für die Wohltaten für Arme zahlen,
es geht um Umverteilung der Pro-
duktivität. Die Menschen ziehen ihre
Würde nicht daraus, Unterstützung
zu bekommen, sondern produktiv
zu sein und zur Gesellschaft beizu-
tragen. Und das dort, wo sie leben.

Gilt das auch für Ihre Heimatstadt
Sheffield?
Ja, die Stadt ist kollabiert, aber es
ist durchaus möglich, attraktive
Jobs in die Stadt zurückzubringen.

Die Fragen stellten Hans-Jürgen
Jakobs und Regina Krieger.

Der Kapitalismus ist aus der Spur gelaufen, meint der britische Ökonom.


Der soziale Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft sei in Gefahr.


Skyline von
London:
Die Provinz wird
abgehängt.

E+/Getty Images

Ökonom und Autor: Paul Collier
unterrichtet in Oxford.

Bernd Roselieb
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