Handelsblatt - 21.10.2019

(Brent) #1
Wirtschaftsbuchpreis 2019
MONTAG, 21. OKTOBER 2019, NR. 202

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D


ass der Zusammenhalt der Gesell-
schaft bedroht sei, ist in jüngster Zeit
häufig zu hören. Dabei geht es nicht
nur um den sozialen Zusammenhalt,
sondern auch um die sich abzeich-
nende politische Spaltung der Gesellschaft. Die
Gründe sind vielfältiger Art; sie beginnen beim an-
geblichen Abbau des Sozialstaats unter dem Ein-
fluss einer neoliberalen Ideologie, verweisen auf
die Erosion staatlicher Kontrolle über die Wirt-
schaft infolge von Liberalisierung und Globalisie-
rung und wenden sich schließlich politischen Kon-
troversen zu, bei denen die Suche nach Kompro-
missen immer schwieriger wird, weil von starken
Gruppierungen eine definitive Entscheidung für ih-
re jeweilige Sicht der Dinge gefordert wird – in der
Frage des Klimaschutzes und den zur Erhaltung
der Artenvielfalt erforderlichen Maßnahmen oder
bei der demografischen Reproduktion einer Gesell-
schaft, die über Zuwanderung erfolgen kann oder
bei der eine mehr oder weniger strikt gefasste eth-
nische und kulturelle Abschließung zur Leitidee ge-
macht wird.
Oder es geht, in Europa zumal, um die Frage, ob
man gemeinsam versuchen will, sich den globalen
Herausforderungen zu stellen, was eine erhebliche
Rücksichtnahme auf die Eigenheiten der einzelnen
Staaten abverlangt, oder ob man zum Modell der
Nationalstaaten zurückkehren und die politische
Agenda nach den Erfordernissen und Möglichkei-
ten des eigenen Raumes aufstellen soll.
Das alles sind Fragen, bei denen die in der Bun-
desrepublik gepflegte Politik des Mittelwegs leicht
als „fauler Kompromiss“ denunziert werden kann,
als Vermeiden von Entscheidungen. Zunehmend
wird vor einer Wiederkehr der Weimarer Verhält-
nisse gewarnt. Wenn mich nicht alles täuscht, be-
finden wir uns zurzeit immer noch im Modus des
Warnens und sind noch nicht zu dem des Han-
delns übergegangen.

Spreizung der Einkommen


Die Zeit des kollektiven Aufstiegs, wie ihn die west-
deutsche Gesellschaft (in minderer Form auch die
Ostdeutschen) nach dem Zweiten Weltkrieg erfah-
ren hat, ist vorbei. Das heißt nicht, dass es keine
Aufstiege mehr geben wird, doch diese werden
sehr viel stärker individueller als kollektiver Art
sein, und den individuellen Aufstiegen werden
auch individuelle Abstiege gegenüberstehen. Das
Problem der politischen Verarbeitung dessen ist
das Selbstverständnis einer Gesellschaft des kollek-
tiven Aufstiegs, das nach wie vor die Erwartungs-
haltung der Deutschen prägt.
Konzentrieren wir uns auf die Ursachen der Ver-
änderung: Das Deutschland der 1950er- bis 1970er-
Jahre befand sich nach den beiden Weltkriegen in
einer Nachholkonstellation, in der die Einbußen
und Verluste der Zeit zwischen 1914 und 1945 wett-
gemacht wurden. Es handelte sich also um eine
Sondersituation, deren Wiederholung keiner wol-
len kann, weil Krieg und Zerstörung deren Voraus-
setzung sind.
Zweitens: Aus der Industriegesellschaft mitsamt
dem für sie typischen Normalarbeitsverhältnis ist
inzwischen eine Dienstleistungsgesellschaft mit
eingelagerten industriellen Kernen geworden, in
der die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften
geschrumpft und die Spreizung der Einkommen
deutlich gewachsen ist. Das betrifft nicht nur das
untere Einkommenssegment, wie etwa die selbst-
ständigen Paketzusteller, sondern ebenso das
oberste, wo die großen Vermögen nicht mehr
aus der industriellen Produktion stammen, son-
dern in Handel und Kommunikationsprojekten
entstehen.

Drittens stehen wir auf der Schwelle zu einer
Postwachstumsgesellschaft, die sich die rabiate Na-
turausbeutung der letzten zwei, drei Jahrhunderte
nicht mehr leisten will und sich bei Strafe ihrer
Selbstzerstörung zu einem schonenden Umgang mit
den begrenzten Naturressourcen genötigt sieht. An
die Stelle von Wachstum wird perspektivisch die Ni-
veauhaltung durch Substitution naturzerstörender
und klimaschädigender Produktionsformen treten.
Diese Veränderungen werden weiterhin zu einer
individuellen beziehungsweise kleingruppenbezo-
genen Veränderung des sozialen Gefüges führen,
bei der sich Auf- und Abstiege die Waage halten
dürften. Zertifizierte individuelle Befähigungen wer-
den also für die soziale Positionierung zukünftig ei-
ne noch stärkere Rolle spielen als bisher. Es ist da-
rum davon auszugehen, dass Bildungszertifikate
weiter an Bedeutung gewinnen werden. Dement-
sprechend wird sich der Kampf um exklusive Zerti-
fikate verschärfen, und das bedeutet Stress bei El-
tern und Kindern und die Verwandlung von Bil-
dungseinrichtungen in soziale Selektionsagenturen,
zurückreichend bis in den Kindergarten.
Das sind im Übrigen Veränderungen, die in der
Gesellschaft längst prozediert werden, während die
Politik dem in einer Mischung aus Erstaunen und
Tatenlosigkeit gegenübersteht. Konkret: Was wir
beobachten, ist der Rückzug von Kindern der obe-
ren Mittelschicht aus den öffentlichen Bildungsein-
richtungen und deren Überwechseln in private In-
stitutionen, die dann als Eliteeinrichtungen ausstaf-
fiert werden. Das zeigt sich nicht nur im rasanten
Zuwachs der Privatschulen, sondern auch in der
Internationalisierung von Hochschulabschlüssen,
die als soziale Distinktionsmechanismen fungieren.
Im Ergebnis heißt das, dass sich der obere Teil der
sozialen Mitte von der unteren Hälfte distanziert
und die Strickleitern eines über Bildung und Aus-
bildung erfolgenden sozialen Aufstiegs eingezogen
werden. Meine These ist, dass das die für den Zu-
sammenhalt der Gesellschaft auf längere Sicht ge-
fährlichste Spaltung ist, weil sie die Perspektive des
Aufstiegs für die untere Mittelschicht dauerhaft ver-
schließt.

Umbau statt generellem Abbau
Der angebliche Abbau des Sozialstaats wird als ei-
ne der Ursachen für die gesellschaftliche Spaltung
genannt. Dem steht indes der Umstand gegenüber,
dass der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoin-
landsprodukt in Deutschland während der letzten
Jahrzehnte kontinuierlich gewachsen ist. Von ei-
nem generellen Abbau kann also keine Rede sein,
allenfalls von einem Umbau, bei dem einige sozia-
le Gruppen die Leidtragenden sind, während an-
dere davon profitieren. Aus Sicht der Leidtragen-
den handelt es sich durchaus um einen Abbau,
nicht aber aus der gesellschaftlichen Gesamtper-
spektive.
Es ist die permanente Veränderung nicht nur der
Arbeits-, sondern auch der Lebenswelt, die den
kontinuierlichen Umbau des Sozialstaats erforder-
lich macht. Dafür ein Beispiel: Dass die Ehe mit-
samt ihren Verpflichtungen gegenüber den Kin-
dern inzwischen keine dauerhafte Einrichtung
mehr ist, sondern relativ leicht aufgelöst werden
kann, stellt einen Freiheitsgewinn für die von einer
Fortsetzung der Ehe negativ Betroffenen dar. Aber
dieser Freiheitsgewinn ist mit erheblichen gesell-
schaftlichen Kosten (Stichwort alleinerziehende
Mütter) verbunden, die von der Gesellschaft nur
bei Einschränkungen in anderen Bereichen über-
nommen werden können.
Im Grundsatz nämlich ist die Grenze der Belast-
barkeit durch Steuern und Abgaben zwecks Fi-
nanzierung der Sozialausgaben erreicht, so dass

die Übernahme neuer Aufgaben durch Einschnit-
te an anderer Stelle finanziert werden muss. Der
Sozialstaat ist groß – um nicht zu sagen fett – ge-
worden, aber er hat an Muskelkraft verloren.
Neue Aufgaben können nur bei Abgabe anderer
Aufgaben übernommen werden. Die Politik ist gut
beraten, wenn sie das den Bürgern erklärt. Auf
die Erwartung gegenwärtigen oder zukünftigen
Wachstums zu setzen, mit dem dann der weitere
Ausbau des Wohlfahrtsstaats finanziert wird, wie
in der Vergangenheit, ist angesichts der weltwirt-
schaftlichen Konstellationen und der ökologi-
schen Selbstbeschränkungserfordernisse nicht
mehr möglich.
Deutschland wird sein gegenwärtiges Wohl-
standsniveau nur halten können, wenn es gelingt,
weiterhin eine wissenschaftliche und technologi-
sche Spitzenposition einzunehmen und von den
Schwellenländern nicht eingeholt zu werden. Dazu
werden gewaltige Anstrengungen erforderlich sein,
die nur dann möglich sind, wenn die erheblichen
Verluste, die unser Bildungssystem zurzeit kenn-
zeichnen, mehr als halbiert werden: die viel zu ho-
he Zahl derer, die die Schule ohne Abschluss ver-
lassen, und die nicht minder alarmierende Zahl
derer, die aus der Schule als funktionale Analpha-

Keynote


„Die Strickleitern


werden eingezogen“


Eine politische Spaltung der Gesellschaft zeichnet sich ab. Die Zeit


des kollektiven Aufstiegs über Bildung und Ausbildung ist vorbei.


Investitionen sind nötig. Von Herfried Münkler


Herfried Münkler: Der Politikwissenschaftler
hielt die Eröffnungsrede.

Bernd Roselieb für Handelsblatt

Preisverleihung: Sir Paul Collier
im Gespräch mit Gästen.

Bernd Roselieb für Handelsblatt (5)

Der Kampf


um exklusive


Bildungs-


zertifikate


wird sich


verschärfen,


und das


bedeutet


Stress bei


Eltern und


Kindern.

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