Wirtschaftsbuchpreis 2019
MONTAG, 21. OKTOBER 2019, NR. 202
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beten herauskommen. Das zu ändern ist unter
dem Aspekt der Herstellung von Chancengleich-
heit erforderlich, aber noch wichtiger ist es nach
Maßgabe der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit
des Landes. Hier sind erhebliche Investitionen er-
forderlich, die sicherstellen, dass die Zahl der vom
Bildungssystem produzierten potenziellen Sozial-
fälle deutlich zurückgeht.
Es spricht vieles dafür, dass die politisch ent-
scheidende Herausforderung bei der Sicherung des
gesellschaftlichen Zusammenhalts nicht bei den
Superreichen und auch nicht am untersten Rand
liegt, sondern im Zusammenhalt der gesellschaftli-
chen Mitte. Wenn sich die Mitte sozial spaltet, weil
es keine generationenübergreifenden Aufstiegs-
möglichkeiten von der unteren in die obere Mitte
mehr gibt, werden sich bald zwei soziale Blöcke ge-
genüberstehen, zwischen denen ein nur noch für
wenige überwindbarer Graben liegt.
Ich bin mir durchaus bewusst, dass die These
von der Hauptgefährdung der sozialen und politi-
schen Ordnung in der Mitte der Gesellschaft im
diametralen Gegensatz zu den aus der Politik kom-
menden Vorschlägen zur Sicherung des sozialen
Zusammenhalts steht. Wenn Politiker über den ge-
sellschaftlichen Zusammenhalt reden, haben sie in
der Regel das unterste und das oberste Segment
der Gesellschaft im Auge: das obere, indem sie von
ihm größere Solidarität einfordern, und das unte-
re, indem sie ihm Hilfe und Unterstützung verspre-
chen. Das ist karitativ, aber nicht strategisch ge-
dacht. Es ist moralisch aller Ehren wert, aber poli-
tisch der falsche Ansatzpunkt.
Viel richtiger wäre dagegen, mit ebenso weitsich-
tigen wie entschlossenen Maßnahmen dafür zu
sorgen, dass die Aufstiegskanäle aus der unteren in
die obere Mitte nicht nur offengehalten, sondern
zusätzlich ausgeweitet und vermehrt werden. Zur-
zeit ist jedoch das Gegenteil der Fall. Die individu-
elle Aufstiegsperspektive in der sozialen Mitte ist
die elementare Voraussetzung für den Zusammen-
halt einer Gesellschaft.
Damit ist das unterste Segment der Gesellschaft
nicht vergessen: Nur wenn die Mitte zusammen-
hält, entsteht eine Bewegung, die auch die Abge-
hängten erfasst und ihnen Chancen des Wiederein-
stiegs in die Gesellschaft eröffnet. Wenn die Mitte,
von der Soziologie lange als Zwiebel beschrieben –
in der Mitte dick und an beiden Enden sehr schmal
–, zur Sanduhr wird, die dort, wo sie vormals am
dicksten war, nun am dünnsten ist, wird die gesam-
te Gesellschaft an dieser Stelle zerbrechen.
Campus der WHU (Otto Beisheim School
of Management): Hochschulabschlüsse werden
internationalisiert, was den Reicheren nutzt,
beobachtet Professor Münkler.
Otto Beisheim School of Management
Auf der Buchmesse: Podiumsdiskussion mit
dem Buch-Preisträger Collier (3. v. l.).
Bernd Roselieb
Im Austausch: Goldman-Sachs-Deutschlandchef
Fink (l.) und Handelsblatt-Geschäftsführer Voigt.
Bernd Roselieb für Handelsblatt
Auf die
Erwartung
zukünftigen
Wachstums
zu setzen, mit
dem der
Ausbau des
Wohlfahrts -
staats
finanziert wird,
ist nicht mehr
möglich.
Elevator Pitch
Visionen und
Algorithmen
Wir haben die Wahl getroffen, aber je-
des der zehn Bücher der Shortlist ist
empfehlenswert“, hatte Jurymitglied
Ann-Kristin Achleitner im Film zum
Auftakt der Preisverleihung in Frank-
furt gesagt. Das wurde deutlich bei der
Saalprobe, die der Juryvorsitzende
Hans-Jürgen Jakobs bei der Preisverlei-
hung machte. Kein Buch bekam vom
Publikum mehr Applaus als die ande-
ren. Und beim „Elevator Pitch“, einer
Präsentation des Buchs in drei Minuten,
zeigte sich das breit gefächerte Potpour-
ri an Sachbüchern, Essays, Reportagen
- auch ein Roman mit einem Wirt-
schaftsthema gehörte zu den Finalisten.
Autoren, Verleger und Lektoren traten
der Reihe nach auf, die Stoppuhr lief
mit. Aus den USA kamen ein Buch von
Heike Buchter über die Erdölförderung
des Frackings, mit Reportageelementen
und der Beschreibung der Konsequen-
zen für Deutschland, sowie ein wie ein
Krimi geschriebenes Buch von John
Carreyrou über den Theranos-Skandal
im Silicon Valley, bei dem eine junge
Frau mit ihrer Start-up-Idee über eine
lange Zeit Investoren täuschte, denn ih-
re Erfindung funktionierte nicht.
Künstliche Intelligenz war ein weiteres
großes Thema. Autor Kai-Fu Lee mel-
dete sich per Video und berichtete
über den amerikanisch-chinesischen
Wettstreit, über den er geschrieben
hat. Das deutsche Autorenduo Jörg Drä-
ger und Ralph Müller-Eiselt beschrieb,
wie Algorithmen unser Leben bestim-
men und wie man sie für sich nutzen
kann. Im Roman von Ernst-Wilhelm
Händler geht es um die Geschichte ei-
ner Millioneninvestition, und die Hand-
lung ist aus der Perspektive des Geldes
erzählt.
Die Journalisten Daniel Goffart und Ale-
xander Hagelüken hatten in ihren Bü-
chern zwei aktuelle Themen aus
Deutschland aufgegriffen: einmal der
Abschied vom langjährigen deutschen
Erfolgsmodell der Mittelschicht und
zum anderen eine Untersuchung über
das Rentensystem und die Lebensar-
beitszeit.
Der Ökonom Thomas Straubhaar ent-
warf eine Zukunftsvision der Wirt-
schaftspolitik: Diese müsse auf Resi-
lienz setzen und neue Perspektiven er-
öffnen.
Und schließlich ging es bei Nils Ole Oer-
mann und Hans-Jürgen Wolff um das
hochaktuelle Thema Wirtschaftskriege,
juristisch und historisch aufgearbeitet.
Alle Finalisten zeigten, wie außeror-
dentlich die Qualität der Debatte in
Deutschland sei, lobte Preisträger Paul
Collier.Regina Krieger
Einzige nominierte Autorin:
Heike Buchter bei ihrem Pitch.
Bernd Roselieb für Handelsblatt