Der Spiegel - 26.10.2019

(backadmin) #1
25

Attentate

»München wurde


vergessen«


Die Sozialpädagogin Anja Spiegler, 33,
von der Opferberatungsstelle »Before«
über die Einstufung des Anschlags am
Münchner Olympia-Einkaufszentrum
(OEZ) von 2016 als rechte Tat

SPIEGEL: Mehrere Gutachten
haben den Münchner Täter, der
neun Menschen erschoss, als
auch rechtsmotiviert eingestuft.
Warum werden in Bayern die
Toten bislang nicht als Opfer
rechter Gewalt gezählt?
Spiegler: Die abschließende
Bewertung wird seit Monaten
verzögert, bislang hält das bayerische
Innenministerium an der These eines vor
allem psychisch gestörten Einzeltäters
fest. Wir erwarten von der Politik, dass
sie spätestens jetzt die extrem rechte
Ideologie des OEZ-Attentäters aner-
kennt, damit die Betroffenen endlich
Klarheit haben.
SPIEGEL:Anders als die Anschläge von
Christchurch und Oslo war der von Mün-
chen in den vergangenen Tagen kaum
Thema. Wieso nicht?
Spiegler: Ich habe das Gefühl, München
wurde vergessen. Viele Opfer haben
keine Lobby. Auch wenn einige sich
öffentlich geäußert haben: Ihre Stimmen
wurden nicht ernst genommen. In der
Berichterstattung waren die Opfer sowie-

so kaum präsent. Für viele Betroffene in
München war das nach der eigentlichen
Tat eine erneute Verletzung.
SPIEGEL: Was hat die Tat von München
mit der in Halle gemein?
Spiegler:Beide Male waren die Täter
junge Männer, die ihren Hass auf Juden
und Muslime zuvor im Netz kundgetan
hatten. Im Internet organisierten sie sich
auch Waffen und bekamen das Gefühl,
einer größeren Community
anzugehören. Der eine beim Por-
tal »Steam«, der andere bei
»8chan« und »Twitch«. Beide
Täter zielten darauf ab, Helden
zu werden, sie suchten Publi-
kum, beide auch international.
SPIEGEL: Sie betreuen seit drei
Jahren Betroffene und Hinterblie-
bene. Wie geht es den Opfern?
Spiegler: Der Umgang ist sehr unter-
schiedlich. Viele versuchen, die Tat zu
verdrängen. Bei anderen ist sie noch sehr
präsent. Ich kenne niemanden, der
weitermachen konnte wie zuvor. Viele
Betroffene meiden bis heute Menschen-
ansammlungen, manche können kaum
U-Bahn fahren. Der Anschlag von Halle
hat bei vielen die Angst geweckt, dass so
etwas wieder passieren kann.
SPIEGEL: Die Gründung Ihrer Beratungs-
stelle war eine Reaktion auf den rechten
NSU-Terror. Haben Sie das Gefühl,
seitdem hat sich genügend verändert?
Spiegler: Wenn ich mir die Diskussion
um die Kürzung von Fördergeldern
anschaue, habe ich, ehrlich gesagt, so
meine Zweifel. RED

Reisebranche

Schneemangel kaum


Forschungsthema


 Die Grünen werfen der Bundesregie-
rung vor, dass die Tourismusforschung
ungenügend auf Herausforderungen
wie den Klimawandel oder die Digitali-
sierung reagiere. So gingen 2018 nur
0,022 Prozent aller Forschungsmittel
des Bundes – das sind 3,8 Millionen
Euro – in diesen Sektor, wie aus einer
Antwort der Bundesregierung auf eine
Kleine Anfrage der Grünenfraktion her-
vorgeht. Die Wachstumsbranche Tou-
rismus trägt dagegen mit 8,6 Prozent
zum Bruttoinlandsprodukt bei. Der
grüne Bundestagsabgeordnete Markus
Tressel hält angesichts dieses Stellen-
werts die Beforschung für unverhältnis-
mäßig gering. Klimaanpassungen, tou-

ristische Mobilität oder »overtourism«
(»touristische Überbeanspruchung«)
stellten die Reisebranche vor immense
neue Aufgaben. Damit die Verkehrs-
wende gelinge, so der Saarländer, müss-
ten »alternative Antriebe für den Flug-
und Kreuzfahrtverkehr« entwickelt
werden. Besondere Not hätten zudem
die Skigebiete: »Es gibt kaum noch
Gebirgsregionen mit verlässlicher
Schneesicherheit in Deutschland«, so
Tressel, für die betroffenen Gebiete
müssten »alternative touristische Nut-
zungskonzepte« entwickelt werden.
Auch der Deutsche Tourismusverband
beklagt mangelndes Engagement der
Regierung. »Wir fordern den Bund auf,
sich endlich der Verantwortung für den
Deutschlandtourismus in Forschung
und Entwicklung zu stellen«, sagt Ver-
bandsgeschäftsführer Norbert Kunz,
auch »im Rahmen der geplanten Natio-
nalen Tourismusstrategie«. Vorbild
könnten laut Kunz die »Radverkehrpro-
fessuren« sein, die der Bund zur Förde-
rung der Fahrradnutzung ins Leben
gerufen hat. AB

IMAGO STOCK
Skigebiet Brauneck im Januar 2017

Organtransplantationen

Spahn will Debatte über


Lebendspenden


 Im Dezember will der Bundestag
über eine Neuregelung der Organspende
im Todesfall entscheiden. Für Bundes -
gesundheitsminister Jens Spahn (CDU)
ist damit nicht genug gegen den Mangel
an Spenderorganen getan. »Aus meiner
Sicht ist es damit noch
nicht zu Ende. Wir haben
anschließend noch eine
Debatte zu führen über das
Thema Lebendspenden«,
sagte Spahn am Dienstag
auf einer Veranstaltung
des Bundesverbands der
Organtransplantierten.
Nach heutiger Rechtslage
dürfen nur enge Angehöri-
ge und nahestehende Per-
sonen zu Lebzeiten Organe
spenden. Experten fordern
etwa, solche Lebendspen-

den auf einen größeren Personenkreis
auszudehnen. Eine Diskussion um diese
ethische Grundsatzfrage schiebe man seit
Jahren vor sich her, monierte nun auch
Spahn. Gerade für Nierenkranke seien
Lebendspenden wichtig.
Bei der Abstimmung im Dezember
geht es um Spahns Gesetzentwurf für die
Einführung der sogenannten Wider-
spruchslösung. Der Entwurf sieht vor,
dass alle Menschen im Falle eines Hirn-
tods als potenzielle Organ-
spender gelten, wenn sie
zu Lebzeiten ihren Wider-
spruch nicht in einem offi-
ziellen Register hinterlegt
haben – und wenn ihre
Angehörigen keine Einwän-
de haben. Ein Gegenvor-
schlag will, dass auch künf-
tig die ausdrückliche
Zustimmung zur Organ-
spende erforderlich ist. Sie
soll regelmäßiger abgefragt
werden, auch Ärzte sollen
dazu beraten. COS

FELIX ZAHN / PHOTOTHEK.NET / IMAGO IMAGES
Spahn
Free download pdf