Der Spiegel - 26.10.2019

(backadmin) #1
blik, nur um für ein paar Stunden ihre
Tochter zu sehen und die Illusion eines
normalen Lebens aufrechtzuerhalten.
Nach dem Auftritt sitzt er mit Scheer in
der Bar des Hotels Erbprinz. »Wir gehören
zu den Gravitas-Teams und kriegen bei
den Veranstaltungen trotzdem Applaus«,
sagt Lauterbach, als der Wein bestellt ist.
Dann summt sein Handy, ein Anruf. Er
steht auf und läuft aus der Bar. Als er spä-
ter wiederkommt, sagt er, dass sein Vater
soeben verstorben sei.
Die nächsten Tage verbringt Lauterbach
bei der Familie. Sein Vater hätte gewollt,
dass er die Kampagne fortführe, sagt er.
Sich nie hängen lassen, das sei sein Lebens-
motto gewesen. Es müsse weitergehen.
Scheer muss das Klimapaket in der Bun-
destagsfraktion allein kritisieren.
Drei Tage später sitzt sie mit Lauterbach
im Zug von Berlin zur nächsten Konferenz
in Braunschweig und ist noch immer fas-
sungslos über den Verlauf der Fraktions-
sitzung in dieser Woche. Leider habe die
Fraktion ein Stück weit den Bezug zur Rea-
lität verloren. Es sei ernsthaft erzählt wor-
den, dass das Klimapaket der Bundesre-
gierung nicht so schlecht sei. Der Tenor
sei gewesen: Wenn wir zusammenhalten
und zu dem Paket stehen, dann werde es
auch als Erfolg rüberkommen. Als sie das
Paket dann kritisiert habe, als Einzige, sei
man ihr regelrecht ins Gesicht gesprungen.
»Ich habe so was noch nie erlebt.«
»Wäre ich da gewesen, ich hätte was ge-
sagt. Ich schwör’s dir!« sagt Lauterbach.
»Von Teilen werden wir klar als Nestbe-
schmutzer bezeichnet«, sagt Scheer.
Zur Beruhigung der Gemüter zieht Lau-
terbach eine seiner Tüten hervor. »Wir ar-
beiten nicht nur an den Reden, sondern
auch an der Nussmischung«, erklärt er.
»Bisher haben wir mit dem Heidelbeer-
Mandel-Mix gearbeitet. Jetzt probieren
wir’s mit Mandel-Cranberry-Mix.«
Auf der Bühne kritisiert Scheer dann
Olaf Scholz für das Klimapaket der Regie-
rung. Man solle nicht so tun, als sei das
gut, was man erreicht habe. Scholz steht
neben ihr und lächelt, wie er all die 23 Ver-
anstaltungen durchlächelt, freundlich und
entrückt. Er zeigt keinerlei Regung. Zu
den meisten Konferenzen hätte er auch ei-
nen Papp-Olaf schicken können. Es hätte
keinen großen Unterschied gemacht.
Dann wird Saskia Esken wieder eine
Elfmeter-Frage gestellt. »Und zwar, wie
ihr zur Klimafrage steht?« In ihrer Ant-
wort gibt sich Esken als große Klima- und
Umweltschützerin und kritisiert das Kli-

mapaket der Bundesregierung scharf. Hin-
ter ihr auf der Bühne sitzen Lauterbach
und Scheer und schütteln die Köpfe. In sei-
nem Schlussstatement spricht er über Pro-
bleme mit der Glaubwürdigkeit und wen-
det sich gezielt an Esken: »Einige haben
hier eben auch gesagt: Das Klimaschutz-
paket, das klappt so nicht. Saskia hat eben
auch gesagt: Das klappt so nicht. In der
Fraktion aber hast du nichts gesagt. Da
hat nur Nina gesprochen.«
Danach steuert Lauterbach seinen Miet-
wagen durch die Nacht Richtung Kamen,
wo am Morgen die nächste Konferenz statt-
findet. Für ihre Position benötige man mas-
sive Konfliktbereitschaft, sagt er. Er stelle
sich gerade gegen alle Freunde in der Par-
teiführung, gegen den gesamten Fraktions-
vorstand, gegen die gesamte Fraktion, ge-
gen alle Minister. »Ich hab ja schon vieles
mitgemacht. Aber das ist keine Kleinig-
keit.« Dann zählt er auf, wer alles seinen
schönen Posten verlieren würde, wenn sie
sich durchsetzten und die GroKo beendet
würde. »Wir konfrontieren ja wirklich alle.
Wenn man da vorne steht, dann spürt man
die Widerstände körperlich.«
Mit dieser Konfliktbereitschaft gehen
sie vielen in der Partei auf den Senkel, das
weiß er. »Wir verderben der ganzen Show
die Harmonie«, sagt Lauterbach. Wären
sie nicht dabei, wäre die Harmonie unge-
stört. Man würde sich in guter Laune über-
bieten. »Daher sind wir die Stimmungskil-
ler für das Fest.«
Um kurz vor Mitternacht trifft er an der
Rezeption des Hotels Stadt Kamen zufällig
auf Saskia Esken. Sie sei sofort auf seine
Spitze eingegangen, in der Fraktion zum
Klimapaket geschwiegen zu haben, so er-
zählt es Lauterbach gleich im Anschluss.
Das sei unkollegial gewesen. Unkollegial
sei es, die Kollegin nicht zu unterstützen,
habe er entgegnet.
Nach der Begegnung sitzt er in der Gast-
stätte »en place« am Marktplatz und be-
stellt einen Rotwein. »Aber bitte keinen,
der lange offen ist.« Es ist wieder mal spät
geworden bei dieser Tournee, und nun flie-
gen die Gedanken. Wenn sie tatsächlich
aus der GroKo rausgingen und eine andere
Klimapolitik machten, sagt Lauterbach,
»das hätte dann eine weltpolitische Dimen-
sion«. Er wiederholt den Begriff immer
wieder. »Was wir hier spielen, ist von welt-
politischer Bedeutung.« Fürs Erste aber
wartet ein schmales Einzelzimmer im Ho-
tel Stadt Kamen auf ihn.
»Wir müssen reden«, heißt die Veran-
staltung der Kölner Jusos am Nachmittag
des nächsten Tages. Sie haben die beiden
Kölner Kandidaten Lauterbach und Wal-
ter-Borjans mit ihren Partnerinnen Scheer
und Esken eingeladen. Rund 30 Jusos sit-
zen in einem schmucklosen Raum.
Endlich wird offen gesprochen, wird kri-
tisiert, werden Unterschiede deutlich. Bei

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gebe wie in den USA: die Diskrepanz zwi-
schen der Hauptstadt und dem Rest des
Landes. Er spricht von der Berliner Blase,
von Machtspielen und Zynismus. In Berlin
hätten sie keine Begeisterung zu erwarten.
Dort säßen Leute, die um ihren Job fürch-
teten, wenn sie aus der GroKo rausgingen.
Sie wollen bei ihrer Strategie bleiben:
die Basis erreichen, sich nicht verunsichern
lassen. Ihre Kampagne sei nun auch ein
Experiment, ob eine Stimmung im Rest
des Landes gedreht werden kann durch
eine Stimmung, die aus der Hauptstadt
kommt. Er klingt jetzt wirklich ein bisschen
wie Trump, nur mit rheinischem Singsang.
Ihm sei übrigens aufgefallen, dass er
ohne Fliege viel ernster genommen werde,
sagt Lauterbach noch. »Die Unverschämt-
heiten, die ich jetzt vortrage, kann man
nicht mit einer Fliege vortragen.«

Ettlingen, 23. September.Am Nachmit-
tag dieses Tages nimmt er an einer Auf-
zeichnung von »Hart aber fair« in Köln
teil, das Thema lautet »Schönheitsopera-
tionen«. Sei gut gelaufen, sagt Lauterbach.
»Der Schönheitschirurg Professor Mang
meinte, ein Eingriff an meiner Hakennase
würde die Chancen bei unserer Kandida-
tur erhöhen.« Nun muss er mit dem Zug
weiter nach Ettlingen, wo in drei Stunden
die nächste Konferenz beginnt.
Auf der Reise muss er immer wieder mit
seiner Familie telefonieren. Sein Vater liegt
im Koma, es könnte sein, dass er in dieser
Nacht stirbt. Bis er vor einer Woche beim
Holzhacken umkippte, habe sein Vater im
vollen Saft gestanden, sagt Lauterbach im
Taxi. Er habe ihn zu Beginn der Kampagne
immer erwähnt auf der Bühne. Weil er, der
Vorarbeiter eines Tiefbautrupps, für ihn
die Verkörperung des Arbeiterstolzes war.
»Ich hätte es da nie für möglich gehalten,
dass er das Ende dieser Kandidatur nicht
mehr erleben könnte.« Er schüttelt den
Kopf. »Das sind echt dramatische Momen-
te jetzt gerade.« Dann hält das Taxi vor
der Halle. Er muss raus. Auf die Bühne.
Auf der Bühne lässt er sich nichts an-
merken. Wie viele Politiker kann Lauter-
bach das echte Leben weitestgehend ver-
drängen, wenn es die politische Mission
zu stören droht. Seine fünf Kinder sind
aus dem Haus oder leben bei den Müttern,
da unterscheidet sich sein Leben von dem
Nina Scheers, die Mutter und ledig ist und
der die Vereinbarkeit von Familie und
Kandidatur viel mehr zu schaffen macht.
Sie gondelt zu manchmal irrsinnigen Ta-
geszeiten kreuz und quer durch die Repu-


Deutschland

Wären sie nicht dabei, wäre die Harmonie ungestört.


Man würde sich in guter Laune überbieten.


»Daher sind wir die Stimmungskiller für das Fest.«

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