Der Spiegel - 26.10.2019

(backadmin) #1
61

O


laf Teubert erinnert sich noch, wie er am 4. Juli 1954
zu Hause in Leipzig vor dem Radio saß und Herbert
Zimmermann zuhörte, der das Finale der Fußballwelt-
meisterschaft zwischen Deutschland und Ungarn kommen-
tierte: »Sechs Minuten noch im Wankdorf-Stadion in Bern,
keiner wankt, der Regen prasselt unaufhörlich hernieder ...«
Damals war Teubert 18 Jahre alt und arbeitete als Maschinen-
schlosser beim Reichsbahnausbesserungswerk. Inzwischen ist
er 83 und lebt in Bielefeld. Er sagt, als
Rahn aus dem Hintergrund schoss und
Zimmermann »Toooor!« schrie, sei das
eine Genugtuung gewesen. Der Sieg riss
ein ganzes Volk aus der Depression der
Nachkriegszeit. »Deutschland war ge-
teilt, aber mit der Teilung habe ich mich
nie abgefunden. Es war auch meine
Mannschaft, die den Titel gewonnen hat-
te«, sagt Teubert. Vielleicht ist das ein
Grund, warum er das letzte Exemplar
des Zuges retten will, mit dem die Spie-
ler nach dem Triumph aus der Schweiz
zurück in die Heimat reisten.
Teuberts Vater galt seit dem Krieg als
vermisst, die Mutter war früh an Tuber-
kulose gestorben, und seine Schwester
musste die DDR »aus politischen Grün-
den« verlassen, wie er sagt. Weil er nicht
zur Volksarmee wollte, folgte er ihr 1955
nach Ostwestfalen. Teubert sitzt im
Ring lokschuppen in Bielefeld. Heute ist
das eine Veranstaltungshalle mit Café,
früher war es der Sitz des Bahnbetriebs-
werks. Teubert war 50 Jahre und fünf
Monate lang bei der Bahn angestellt, hat
als Heizer einer Dampflok auf der Fahrt
von Bielefeld nach Braunschweig sieben
Tonnen Kohle in den Kessel geschaufelt,
er hat noch immer einen mächtigen Bizeps. Er war Lokomo-
tivführer, zunächst von Dampfloks, später von E-Loks.
Nach seiner Pensionierung gründete er 2004 den Verein
der Bielefelder Eisenbahnfreunde mit. Die erste Lokomotive,
die Teubert vor der Verschrottung bewahrte, war die 01 150,
eine Dampflok, gebaut 1935, die er selbst noch gefahren ist.
Für die Instandsetzung sammelte er eine halbe Million Euro.
Er hatte unter anderem dem damaligen Bahn-Chef Hartmut
Mehdorn geschrieben und dem früheren Ministerpräsidenten
Kurt Biedenkopf, einem bekennenden Eisenbahnfan, der
10 000 Euro spendete. Die Lok wurde in einem Werk in Mei-
ningen aufbereitet, und jedes Mal, wenn Olaf Teubert in Thü-
ringen war, um die Fortschritte zu begutachten, blickte er
auf einen Zug, der auf einem Abstellgleis vor sich hin rostete:
ein VT 08, auch »roter Blitz« genannt. Der Weltmeisterzug.
Olaf Teubert kann so liebevoll über Züge reden wie andere
über Frauen. Der VT 08 sei »ein Hingucker« gewesen, sagt er,
»elegant und niveauvoll«. Der VT 08 fuhr Tempo 140 und bot


für Geschäftsreisende ein Abteil mit Sekretärin und Telefon.
Zur Baureihe zählten 20 Dieseltriebwagen, 22 Mittelwagen
und 13 Steuerwagen. Der einzige komplette Zug, den es noch
gibt, ist der in Meiningen. Er besteht aus vier Wagen und
gehört dem Museum der Deutschen Bahn. Bis auf einen wei-
teren Steuerwagen sind alle übrigen Stücke vernichtet worden,
auch der originale Weltmeisterzug. In Meiningen steht die bau-
gleiche Ausführung, die im Film »Das Wunder von Bern« auf-
taucht. Für die Dreharbeiten wurde sie dem Vorbild entspre-
chend mit »FUSSBALL-WELTMEISTER 1954« beschriftet.
Vom alten Glanz ist wenig übrig geblieben. Die Außen-
verkleidung ist schmuddelig und rissig, der Zug hat Moos an-
gesetzt, die Scheiben sind matt und undicht, der Innenraum
ist feucht. Dieser Anblick schmerzt Olaf Teubert. Für ihn ist
der VT 08 ein Stück deutscher Geschichte. Er sagt: »Wenn
wir 135 Millionen Euro ausgeben, um die ›Gorch Fock‹ zu sa -
nieren, wenn wir die ›Landshut‹ aus Brasilien holen und auf -
arbeiten, dann muss uns doch auch dieser Zug wichtig sein.«
Den Zug wieder fit zu machen kostet zwei bis drei Millionen
Euro, und deshalb hat Teubert den
nächsten Spendenaufruf gestartet. Dass
jeder seine Idee gut finden muss, ist
für ihn keine Frage. Er hat Briefe ge-
schrieben, drei Seiten lang, mit der
Hand: »Wären Sie bereit, eine eventu-
elle Hauptuntersuchung dieses form-
schönen Triebwagens finanziell zu un-
terstützen? Die ganze Aktion liefe über
die Deutsche Eisenbahnstiftung, Spen-
denbescheinigungen werden in unbe-
grenzter Höhe ausgestellt.«
So einen Brief schickte er wie selbst-
verständlich an Uli Hoeneß, Rudi Völler,
Reiner Calmund, Oliver Bierhoff, Karl-
Heinz Rummenigge, Clemens Tönnies,
den damaligen DFB-Präsidenten Rein-
hard Grindel, an das Deutsche Fußball-
museum, an Jürgen Klopp, er schickte
ihn an Adidas, an Edmund Stoiber, weil
der im Aufsichtsrat des FC Bayern sitzt,
und an Friedrich Merz.
Sosehr Teubert das Schicksal des
Zuges berührt, so gleichgültig ist es den
Fußballmanagern und Politikern. Viele
Adressaten meldeten sich nicht zurück.
Grindel antwortete für den DFB am 15.
März: Er habe »vollstes Verständnis und
auch ein offenes Ohr«, könne aber nicht
helfen. »Hier fehlt es an der Zuständigkeit«, allerdings liege
ihm »das Vermächtnis der 54er-Weltmeister sehr am Herzen«.
Am 11. April antwortete Adidas: Man sei sich als global
tätiges Unternehmen »seiner gesellschaftlichen Verantwor-
tung« bewusst, aber man könne nur Projekte »mit gemein-
nützigem Hintergrund« unterstützen.
Am 23. Juli antwortete das Büro von Friedrich Merz: Man
habe den Brief »mit großem Interesse gelesen«, könne sich
aber nicht finanziell beteiligen.
Am 13. September antwortete das Büro von Edmund Stoi-
ber: Herr Stoiber habe »hohen Respekt« vor dem Engagement,
könne jedoch nichts tun. Er wünsche »viel Erfolg bei der Ak-
quise von Spendengeldern und lässt Sie herzlich grüßen«.
Olaf Teubert sitzt im Ringlokschuppen und ist enttäuscht.
»Die Bundesligisten haben vor der Saison über 700 Millionen
Euro für Spieler ausgegeben. 3 Millionen sind ein Klacks.«
Er würde gern weitermachen. Aber er weiß nicht, wem er
noch schreiben soll. Maik Großekathöfer

Abstellgleis


Ein ehemaliger Lokomotivführer aus Bielefeld
will den Weltmeisterzug von 1954 retten.

Eine Meldung und ihre Geschichte

MAIK GROSSEKATHÖFER / DER SPIEGEL
Teuber t

Von der Website Haller-kreisblatt.de
Free download pdf