Der Spiegel - 26.10.2019

(backadmin) #1

Lateinamerika brennt, und das liegt nicht nur am venezolani-
schen Autokraten Nicolás Maduro. In Chile und Ecuador erhe-
ben sich die Bürger gegen eine konservative, marktgläubige
Herrschaftsschicht. Die Regierenden haben es nicht geschafft,
die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit zu verringern – das
ewige Übel Lateinamerikas.
Chile war nur vordergründig politisch stabil, die Kluft zwischen
Arm und Reich hat sich seit der Rückkehr zur Demokratie nach
der Pinochet-Diktatur nicht geschlossen. Präsident Sebas tián Piñe-
ra ist ein Unternehmer, der an die Allheilkraft des Marktes glaubt.
Er hat staatliche Dienstleistungen privatisiert – mit dem Ergebnis,
dass Millionen Chilenen verarmt sind. Sie können weder eine
Krankenversicherung noch ihr Studium noch ihre Altersvorsorge
bezahlen. In Ecuador hat der mächtige Indigenenverband den
Volksaufstand gegen den Konservativen Lenin Moreno angeführt.


Der Präsident hatte die Subventionen für Treibstoff gestrichen,
die Preise waren gestiegen – ähnlich wie in Chile, wo die Er -
höhung der Fahrpreise für die U-Bahn von Santiago den Volks-
zorn entfesselt hatte. Beide Regierungen haben die Maßnahmen
zurückgenommen, doch die Wut richtet sich gegen die gesamte
politische Klasse. Anders ist es in den Nachbarländern Bolivien
und Peru, wo sich die soziale Schere in den vergan genen Jahren
etwas geschlossen hat. Hier verläuft die Front zwischen Angehöri-
gen der traditionellen Elite und Populisten.
Lateinamerika wird erst dann zur Ruhe kommen, wenn die
Regierungen demokratische Reformen umsetzen – und den
Armen einen Ausweg aus ihrer Misere bieten. Dafür müssen
die Reichen mehr zur Kasse gebeten und die Institutionen
gestärkt werden. Bislang waren die Herrschenden nicht dazu
bereit. Das muss sich ändern. Jens Glüsing

Analyse

Ewiges Übel


In mehreren Ländern Lateinamerikas wollen die Bürger soziale Ungleichheit nicht mehr hinnehmen.

86


Ausland


»Sind die Europäer wirklich bereit, den moralischen Preis dafür zu zahlen, eine Interventionsmacht zu werden?«‣S. 92

DER SPIEGEL Nr. 44 / 26. 10. 2019

Eine Studentin in Ugandas Hauptstadt Kampala wird von Polizisten festgenommen. Sie hatte gemeinsam
mit Kommilitonen gegen die Erhöhung der Studiengebühren an der Makerere-Universität protestiert.
Es sind nicht die ersten Unruhen an der renommiertesten Hochschule des Landes: Trotz der mehr als
35 000 Studenten fehlt stets Geld – unter anderem zur Bezahlung der Dozenten.

LUKE DRAY / GETTY IMAGES
Free download pdf