Der Spiegel - 26.10.2019

(backadmin) #1

A


ls Orakel hat Sir Ivan Rogers in
den vergangenen Jahren einen er-
staunlich guten Job gemacht. Der
59-Jährige war mal Großbritan-
niens EU-Botschafter, lange vor dem EU-
Referendum prophezeite er, dass sich der
Brexit als schreckliche Idee für sein Land
erweisen werde. Er sah auch das tragische
Aus für Theresa May voraus. Und er weis -
sagte, dass es nie gelingen werde, in zwei
Jahren ein mehrheitsfähiges Scheidungs-
abkommen mit Brüssel auszuhandeln.
Sein Problem: Diejenigen, die er recht-
zeitig warnte, hörten nie zu.
Am Montag dieser Woche sitzt der Mann,
den manche Landsleute inzwischen »Dr.
Unheil« (Dr. Doom) nennen, in einem
deutschen Restaurant in London, starrt in
seinen Kaffee und sagt: »Ich wünschte, ich
hätte nicht recht behalten.«
Dann wagt er seine nächste Prophe -
zeiung: »Ich vermute, dass wir mit Boris
Johnson die nächsten zehn Jahre werden
leben müssen – womöglich sogar länger.«
Für das Vereinigte Königreich sei das mit-
telfristig desaströs. »Aber wen interessiert
das schon noch?«
Zehn Jahre Johnson? Nach der rekord-
verdächtigen Pleiten- und Pannenserie, die
der Premierminister, seit gerade mal drei
Monaten im Amt, hingelegt hat? Nach all
den Rücktritten und Rauswürfen, die dazu
geführt haben, dass der Politberserker nur
noch einer nahezu handlungsunfähigen
Rumpfregierung vorsteht?
Es ist eine kühne Prognose, die Rogers
da abgibt. Aber diesmal steht er nicht
allein da. In London wächst die Zahl de-
rer, die glauben, dass jede Niederlage,
die Johnson seit Juli im britischen Parla-
ment, vor Gericht oder bei Verhandlun-
gen in Brüssel einstecken musste, ihn tat-
sächlich nur stärker gemacht hat. Mehr
noch: dass es von Anfang an Teil seiner
Strategie gewesen sein könnte, sich kne-
beln, einkesseln und schurigeln zu lassen,
um am Ende als politischer Entfesselungs-
künstler einen Beweis für seine Raffi -
nesse zu liefern.
Manche von Johnsons Vasallen spre-
chen jedenfalls jetzt, da der Brexit-Mara-
thon womöglich auf seine Zielgerade ein-
biegt, von einer Win-win-Situation: Egal
was die nächsten Wochen bringen, Boris
Johnson werde am Ende als Sieger daste-


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Ausland

Flaggen von Austrittsbefürwortern und -gegnern vor dem britischen Parlament:Die Regierung

Im Namen des Volkes


GroßbritannienRegierungschef Boris Johnson wirkt handlungsunfähig. Aber seine Berater
glauben, dass er die Brexit-Schlacht für sich entscheiden wird. Dafür fordert er nun

eine Neuwahl im Dezember – um die Opposition in einen schmutzigen Wahlkampf zu zwingen.

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