Der Spiegel - 26.10.2019

(backadmin) #1

92


Ausland

Kaum ein amerikanischer Intellektueller
hat eine so bewegte Biografie hinter sich
wie Robert Kagan. Der Historiker begann
seine Karriere in den Achtzigerjahren wäh-
rend der Amtszeit Ronald Reagans. Er
schrieb Reden für dessen Außenminister
George P. Shultz und beriet später die re-
publikanischen Präsidentschaftskandida-
ten John McCain und Mitt Romney. Kagan,
61, ist einer der prominentesten Vertreter
der neokonservativen Denkschule. Er war
ein Verfechter einer militärischen Interven-
tion im Irak, was ihm später vor allem im
linken Lager viel Kritik eingetragen hat.
Sein Glaube an die Rolle der USA als Hüter
der liberalen Weltordnung ist ungebrochen.


SPIEGEL: Mr Kagan, Donald Trumps Ent -
scheidung, die US-Truppen aus Nordsy-
rien abzuziehen, hat enorme Konsequen-
zen: Sie öffnete die Tür für eine türkische
Invasion, stärkte den Einfluss Russlands
und Irans in Syrien und untergrub das Ver-
trauen in die USA. Glauben Sie, Trump
war klar, welchen Schaden er mit seinem
Befehl anrichten würde?
Kagan: Ich denke nicht, dass der Präsident
sich überhaupt große Gedanken über die
Folgen seiner Entscheidung gemacht hat.
Er nimmt an, dass sich seine Wähler einen
Rückzug aus Syrien wünschen, ganz egal
wie die Folgen aussehen. Wahrscheinlich
liegt er damit gar nicht falsch. Einen gro-
ßen öffentlichen Aufschrei jedenfalls habe
ich nicht ver nommen.
SPIEGEL: Immerhin haben einige einfluss-
reiche republikanische Senatoren Trump
scharf kritisiert. Mitch McConnell, der
Mehrheitsführer im Senat, schrieb in ei-
nem Gastbeitrag für die »Washington
Post«, Trump habe die USA in einen »stra-
tegischen Albtraum« geführt.
Kagan: Trump hat darauf zumindest inso-
fern reagiert, als dass er ein paar amerika-
nische Soldaten im Nordosten Syriens be-
lässt. Aber im Großen und Ganzen glaubt
der Präsident nicht, dass die Führung der
Republikaner Eindruck auf die republika-
nischen Wähler macht. Trump hat die
Wahl 2016 nicht mit, sondern gegen die
eigene Partei gewonnen. Deshalb hält er
Leute wie Mitch McConnell für Papier -
tiger.


Das Gespräch führte der Redakteur René Pfister in
Kagans Haus in Virginia.


SPIEGEL: Allerdings haben es die Republi-
kaner nun in der Hand, Trumps Präsident-
schaft vorzeitig zu beenden. Sie müssen
im Senat nur mit den Demokraten für eine
Amtsenthebung stimmen. Halten Sie das
für ausgeschlossen?
Kagan: Nicht völlig. Aber wenn es so
weit kommen sollte, ist der Grund sicher
nicht Trumps Außenpolitik. Die Republi-
kaner werden sich vom Präsidenten ab-
wenden, wenn sie den Eindruck gewin-
nen, dass er in seinem Wahn die Partei in
den Abgrund reißt. Aber so weit sind wir
noch nicht.
SPIEGEL: Der Rückzug aus Nordsyrien
war nur ein Teil eines größeren Verspre-
chen Trumps, die »endlosen Kriege« sei-
ner Vorgänger zu beenden. Können die
Europäer die Lücke füllen, die die USA
im Nahen Osten hinterlassen?
Kagan: Vielleicht habe ich ja etwas ver-
passt: Aber bislang kann ich nicht erken-
nen, dass es die Europäer danach drängen
würde, Soldaten nach Syrien zu schicken.
SPIEGEL: Die deutsche Verteidigungs minis -
terin Annegret Kramp-Karrenbauer hat vor-
geschlagen, eine Schutzzone in Nordsyrien
einzurichten, die auch mit europäischen
Truppen abgesichert werden könnte.
Kagan: So sehr ich mir wünsche, dass sich
die Europäer engagieren, so groß ist meine

Skepsis, dass sie wirklich in der Lage sind,
die Amerikaner zu ersetzen. Das fängt bei
der militärischen Logistik und dem Mate-
rial an, aber es geht darüber hinaus um
grundsätzlichere Fragen. Sind die Europäer
wirklich bereit, den moralischen Preis da-
für zu zahlen, eine militärische Interven -
tionsmacht zu werden? Denn das bedeutet,
Menschen zu töten und es auch zu ertragen,
dass unschuldige Zivilsten sterben, weil in
jedem Krieg Fehler gemacht werden. Die
Deutschen haben sich nach dem Zweiten
Weltkrieg zu einem friedlichen, zivilen
Volk entwickelt. Ich glaube nicht, dass sie
diese Bürde tragen wollen.
SPIEGEL: Hat Trump recht, wenn er da-
rauf besteht, dass die Europäer mehr als
70 Jahre nach Ende des Zweiten Welt-
kriegs endlich auf eigenen Füßen stehen
müssen?
Kagan: Trump sagt nichts anderes als sei-
ne Vorgänger seit John F. Kennedy – dass
die Europäer einen größeren Anteil an den
gemeinsamen Verteidigungsaus gaben tra-
gen sollten. Aber er liegt falsch, wenn er
meint, er könnte Europa sich selbst über-
lassen.
SPIEGEL: Warum?
Kagan: Wir haben den Deutschen über
Jahrzehnte gesagt: »Wir wollen gar nicht,
dass ihr eine normale Nation seid. Küm-
mert euch darum, dass eure Wirtschaft ge-
deiht. Wir wollen nicht, dass ihr fünf Pro-
zent eurer Wirtschaftsleistung in die Rüs-
tung steckt.« Wenn wir nun plötzlich
fordern, dass die Deutschen aufrüsten sol-
len, dann ist das ein riskantes Spiel. Der
Einfluss der USA war der entscheidende
Faktor, um nach dem Zweiten Weltkrieg
ein friedliches Europa zu schaffen. Die
USA haben ein internationales Handels-
regime durchgesetzt, das wichtig für den
ökonomischen Erfolg des Kontinents war.
Dieses Regime ist nun ernsthaft gefährdet,
ebenso wie die Demokratie als Grundlage
der politischen Ordnung in Europa.
SPIEGEL: Dafür ist aber nicht allein Trump
verantwortlich.
Kagan:Wir alle haben es uns mit dem Ge-
danken bequem gemacht, dass die freiheit-
liche Demokratie quasi zu einem festen
Bestandteil der menschlichen Kultur ge-
worden ist. Das war eine Illusion, wie sich
nun zeigt. Die freiheitliche Demokratie
provoziert immer Gegenkräfte, die es zu
kontrollieren gilt. Diese Aufgabe haben

»Werden Sie erwachsen!«


SPIEGEL-GesprächDer US-Konservative Robert Kagan über den Rückzug der Vereinigten Staaten
als Ordnungsmacht und Deutschlands Rolle in der Welt

JOHN BOAL / DER SPIEGEL
Historiker Kagan
»Ein riskantes Spiel«
Free download pdf