Der Spiegel - 26.10.2019

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diese Urkunden in einer feierlichen Zere-
monie, bei der sie die Angehörigen im Na-
men des Staates um Verzeihung bat.
»Diese Zeremonien sind wichtig, um mit
der Vergangenheit abzuschließen«, sagt
sie. Aber Bolsonaro setzte ihnen ein Ende,
indem er das Budget einfrieren ließ. Gon-
zaga verschickte die Urkunden daraufhin
per Post. Ihren letzten Umschlag adressier-
te sie im vergangenen Juli an einen Mann
namens Felipe Santa Cruz, der kaum zwei
Jahre alt war, als er seinen Vater zum letz-
ten Mal sah. Als Vorsitzender der Anwalts-
kammer ist Santa Cruz heute ein einfluss-
reicher Mann in Brasilien. Dann geriet
Gonzaga zwischen die Fronten.
Am 29. Juli nahm Bolsonaro ein YouTu-
be-Video auf. Er wisse aus guter Quelle,
sagte er, während ein Friseur an seinen
Haaren schnitt, dass Santa Cruz’ Vater ein
Verräter gewesen sei, den seine eigenen
Leute im Untergrund ermordeten. Gonza-
ga widersprach dem Präsidenten öffentlich.
Die Leiche, sagt sie, sei entweder in einem
Folterknast in Rio einbetoniert oder auf
einem Friedhof in São Paulo verscharrt
worden. Tage später erfuhr sie aus der Zei-
tung von ihrer Entlassung.
Auf ihrem Posten sitzt jetzt ein Jurist,
der mit der Sache nie etwas zu tun hatte.
Auch drei weitere Mitglieder der Kommis-
sion wurden rausgeworfen. Um die Auf-
klärung der Diktaturverbrechen kümmern
sich künftig vor allem Militärs. »Sie sind

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Ausland

liche Filmförderung soll künftig ein Evan-
gelikaler führen. Die Zerstörung und das
Chaos, die diese Personalrochaden anrich-
ten, sind gewollt, und man liegt wohl nicht
ganz falsch, wenn man den Kopf dahinter
in Washington vermutet.
Stephen Bannon war der Mann, der Do-
nald Trump als Wahlkampfchef ins Weiße
Haus verholfen hat. Seit einiger Zeit ar-
beitet er daran, seine ultrarechte Welt -
anschauung zu exportieren. Bannon unter -
hält enge Kontakte zu Eduardo Bolsonaro,
dem dritten Sohn des Präsidenten, von
Bannon stammt auch die Idee, den Ver-
waltungsstaat nicht zu reformieren, son-
dern zu zerstören.
Ähnlich denkt Jair Bolsonaro, der Ban-
non bewundert. In einem Interview sagte
Bolsonaro einmal, Demokratien würden
nicht unbedingt Ordnung und Wohlstand
bringen. »Die Dinge«, meinte er, »änderst
du im Grunde nur durch einen Bürger-
krieg. Wenn du erledigst, was die Diktatur
versäumt hat. Wenn dabei ein paar Un-
schuldige sterben, ist das okay.«
Eugênia Augusta Gonzaga erinnert sich
noch an den Tag, als sie vor dem Parlament
die Büste eines Mannes einweihten, der in
der Diktatur verschwunden war. Bolsonaro
spuckte im Vorbeigehen darauf. Gonzaga
kannte die Ölgemälde von den Militärs, die
hinter Bolsonaros Schreibtisch hingen, und
das Plakat an der Bürotür, das besagte, dass
nur Hunde nach Knochen suchen würden.
»Seine Wahl löste bei mir ein beklem-
mendes Gefühl aus«, sagt Gonzaga.
Gonzaga ist eine elegante Dame, die
2014 ihre Stelle bei der Staatsanwaltschaft
in São Paulo ruhen ließ. Sie übernahm da-
für die Leitung einer Kommission, die das
Schicksal der Verschwundenen und Toten
der Diktatur aufklären soll. Von 1964 bis
1985 herrschten die Generäle. Hunderte
Oppositionelle verschwanden damals in
deren Folterkellern. Auf einem Tisch in
Gonzagas Büro liegt ein dickes Buch. Es
bündelt das Wissen, das sie über ihren Ver-
bleib angesammelt hat.
»Es ist mühsame Arbeit«, sagt Gonzaga.
Sie heben Massengräber aus und schicken
Knochen in Labore. Sie nehmen DNA-
Proben von Angehörigen, führen Gesprä-
che und suchen Dokumente, die etwas
über den Verbleib einer Person erzählen.
374 Fälle, sagt Gonzaga, hätten sie geklärt,
und vermutlich wären es längst mehr,
wenn das Militär die Archive geöffnet hät-
te oder die Folterer vor Gericht zur Re-
chenschaft gezogen worden wären.
Nach dem Abschluss eines Falles setzte
Gonzaga jeweils eine offizielle Sterbeur-
kunde auf. Auch wenn die genauen Todes-
umstände nicht zu ermitteln waren, wird
darin anerkannt, dass die betreffende Per-
son »durch staatliche Gewalt im Kontext
der politischen Verfolgung Oppositionel-
ler« ums Leben kam. Gonzaga überreichte


dabei, unsere Geschichte umzuschreiben«,
sagt Gonzaga.
Ricardo Vélez, Bolsonaros damaliger
Bildungsminister, hatte schon im April an-
gekündigt, die Schulbücher zu überarbei-
ten. Die Militärherrschaft, sagt er, sei nicht
so ein Albtraum gewesen. Der Wirtschaft
sei es gut gegangen, es habe weniger Ge-
walt gegeben, an den Schulen habe Dis-
ziplin geherrscht. In Vélez’ Version der Ge-
schichte retteten die Generäle das Land
vor einer kommunistischen Revolution.
Langsam, aber sicher, so scheint es,
formiert sich ein neuer Mainstream. Was
lange Zeit tabu war, wird wieder sagbar.
Lehrer rechtfertigen wieder die staatliche
Repression, jede Woche erscheinen neue
Bücher, in denen Generäle die gute alte
Zeit aufleben lassen.
Die Filmförderung hat kürzlich das schon
bewilligte Budget für zwei Filme gekappt,
die Genderthemen beleuchten wollten.
Theaterstücke werden aus dem Programm
gekippt, wenn sie Bolsonaro-kritische Pas-
sagen enthalten. In Rio schickte der evan-
gelikale Bürgermeister die Polizei zur Buch-
messe, um einen Comicband zu konfiszie-
ren, in dem sich zwei Superhelden küssen.
Journalisten, die diese Dinge hinterfra-
gen, werden mit Shitstorms überzogen. Der
Wirtschaftsjournalistin Miriam Leitão, die
man während der Diktatur zusammen mit
einer Würgeschlange in die Zelle gesperrt
hatte, dichtete Bolsonaro auf Twitter an,
sie habe als Guerillera eine Bank ausrauben
wollen. Es war eine Lüge, die Twitter-Trolle
millionenfach multiplizierten. Eines dieser
Störfeuer, die sich wie ein Grundrauschen
über die Wirklichkeit legen und ablenken
von gut zwölf Millionen Arbeitslosen oder
jährlich mehr als 50 000 Morden.
Es ist eine »Show der Dummheiten«,
sagt der General Carlos Alberto dos San-
tos Cruz. Er hat ein halbes Jahr lang ver-
sucht, die Kommunikation des Präsiden-
ten auf ein seriöses, dem Amt angemesse-
nes Niveau zu heben.
Santos Cruz ist ein durchtrainierter 67-
Jähriger, der von seinem Balkon einen Pa-
noramablick auf das politische Brasília hat.
Bolsonaro kennt er seit ihrer gemeinsamen
Zeit an der Militärakademie Agulhas Ne-
gras. Sie waren Nachbarn und trainierten
in derselben Fünfkampfgruppe. Der Kon-
takt ihrer Familien riss auch nicht ab, als
Santos Cruz Blauhelmeinsätze im Kongo
und in Haiti koordinierte. Im Januar holte
Bolsonaro ihn als Stabschef in die Regierung.
Santos Cruz glaubte an den Kampf ge-
gen die Korruption. Er glaubte an Wirt-
schaftsreformen und hoffte, dass die Zeit
der Fake News und ideologischen Graben-
kämpfe mit seinem Dienstantritt vorbei
sein würde. Es war eine Frage der Zeit, bis
er mit Carlos Bolsonaro aneinandergeriet.
»Pitbull« nennt Bolsonaro seinen zweit-
geborenen Sohn, der als 17-Jähriger zum

ADAM GLANZMAN / DER SPIEGEL

MARCELO CHELLO / PICTURE ALLIANCE / ZUMA PRESS
Menschenrechtlerin Gonzaga
»Sie schreiben die Geschichte um«

Bolsonaro-Kritiker Wyllys
Todesdrohungen und Beleidigungen
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