Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

Freitag, 18. Oktober 2019 WIRTSCHAFT 25


Erdöl brachte Österreich die Unabhängigkeit

Im Osten Wien s werden Felder mit Spitzentechnologie ausgebeutet – das schwa rze Gold ermöglichte einst die Freiheit von den Sowjets


MATTHIAS BENZ,GÄNSERNDORF


«Glück auf», rufensich die Bohrleute zu.
Rund 30 00 Meter unter ihnen gräbt sich
der diamantbesetzte Bohrkopf durch
die Gesteinsschichten desWeinviertels
im OstenWiens. In Gänserndorf teuft
die Öl- und Gasgesellschaft OMV, eines
der grösstenUnternehmen Österreichs,
gerade eine neue Bohrung in ein altes
Erdöl- und Erdgasfeld ab. Seit1934 wer-
den hierKohlenwasserstoffe gefördert.
Aber dieLagerstätten sind noch längst
nicht ausgereizt. Die OMV holt jedes
Jahr immernoch soviel Erdöl aus dem
Boden, dass damit 10% desVerbrauchs
in Österreich gedeckt werden kann.
«Beider Ausbeutung reiferFelder
sind wirWeltspitze»,sagtJohann Plei-
ninger.Der OMV-Vizechefkennt das
Weinviertel wie seineWestentasche. Er
ist hier aufgewachsen, begann mit 15
Jahren eine Lehre bei der OMV, wurde
zum jüngstenBohrmeister des Unter-
nehmens, holte später nebenberuflich
das Studium nach und arbeitete sich bis
zum Chef der weltweiten Explorations-
undFörderaktivitäten hoch – eine unge-
wöhnliche Karriere.
Pleininger erinnert sich an seine
Jugend in den 1970er Jahren: «Das
Weinviertel war damals ein totes Ge-
biet, denn es lag direkt am Eisernen
Vorhang.Touristen kamen kaum je über
Wien hinaus.Wirtschaftlich gab es nicht
viel. Die OMV war der einzige grosse
Industriebetrieb mit gutbezahltenJobs.»
Pleininger zeigt sich stolz, dass die OMV
auch heute noch ein wirtschaftliches
Rückgrat derRegion ist.«Wir fördern
die gleichen Mengen wie vor 30Jahren.
Man findet weltweit nur wenige andere
Erdölfelder, bei denen das so ist.»
Selbst in Österreich wissen nur die
wenigsten, dass im äussersten Osten des
Landes in grossem Stil Erdöl und Erd-
gas gewonnen werden.Dabei ist die Be-
deutung dieserRohstoffe nicht zu unter-
schätzen.Dass Österreich 10% seines
eigenen Öl- und Gasbedarfs selbst de-
cken kann, erhöht dieVersorgungssicher-
heit und entlastet dieAussenhandels-
bilanz. Zudem spielte das Erdöl aus dem
Weinviertler Boden eine grosseRolle in
der bewegten Geschichte desLandes.


Rohstoffefür Hitler


Als mit der Bohrung «Gösting II» im
Jahr1934 der erste wirtschaftlich loh-
nende Erdölfund gelang, war dies eine
zweischneidige Errungenschaft. Die
Nationalsozialisten in Deutschland
wurden schnell darauf aufmerksam und
hofften, dass «die Ölfelder beiWien ein
zweitesPennsylvanien werdenkönn-
ten», wie der GrazerWirtschaftshistori-
ker Walter M. Iber schreibt.Für Adolf
Hitler waren dieRohstoffvorkommen
mit ein Grund, warum er1938 dieWehr-
macht in Österreich einmarschieren liess
und den «Anschluss» an das Deutsche
Reich vollzog. Die Hoffnungen sollten
nicht enttäuscht werden: In denJah-
ren der Besatzung bis1945 lieferten die
österreichischenFelderrund zwei Drit-
tel der gesamten Erdölproduktion im
DeutschenReich.
Nachdem Nazi-Deutschland von
den Alliierten besiegt worden war, galt
Österreich zwar offiziell als «befreit»
und war deshalb auch nicht zuRepa-
rationszahlungen verpflichtet. Aber die
Siegermächte hielten auch fest, dass
Österreich eineVerantwortung für die
Beteiligung am Krieg aufseiten Nazi-
Deutschlands trage. Das sollte dasLand
teuer zu stehenkommen. Österreich
wurde in vier Besatzungszonen aufge-
teilt.Vor allem die sowjetische Besat-
zungsmacht, die den ganzen Osten des
Landes rund umWienkontrollierte,
fandWege, um ihr Gebietwirtschaftlich
auszupressen und so indirekt an erheb-
licheReparationen zukommen.
Einerseits beschlagnahmten die
Sowjets ehemals deutschen Besitz – rund
400 Industriebetriebe,Waldbesitz und
Immobilien – und verwalteten ihn fortan
als «SowjetischesVermögen in Öster-
reich» (USIA). Anderseits wurde die
neugeschaffene Sowjetische Mineralöl-


Verwaltung (SMV) bald zur wirtschaft-
lich ergiebigsten Säule der Besatzung. Im
Jahr1949 erschloss man in Matzen das
damals grösste Erdölfeld Mitteleuropas.
Österreich stieg schnell zum drittgröss-
ten Erdölproduzenten in Europa nach
der UdSSR undRumänien auf.

Sowjets greifen zu


Für die Sowjets erwies sich dasWein-
viertler Erdöl in derTat als Boden-
schatz. Sie brachten das Öl zum gröss-
tenTeil ausserLandes,ohne Steuern
oder Zölle dafür in Österreich zu bezah-
len.Auf dieseWeisekonntensieauch
die sozialistischen Bruderländer in Ost-
mitteleuropa mit wichtigem Erdöl ver-
sorgen. Dieser «Ölraub», wie es der His-
toriker Iber nennt,kostete Österreich
bis1955 umgerechnet rund150Mio.$ –
zu heutigen Preisen gut 1,5 Mrd. $.
Das reichlich fliessende Erdöl hatte
aber auch denVorteil, dass Österreich
seine «Schuld» bei den Sowjetsrelativ
schnell abzahlenkonnte. Nach zehnJah-
ren der Besatzung willigten neben den
Amerikanern, Briten und Franzosen
auch die Sowjets in den Staatsvertrag
von1955 ein. Dieser machte Österreich
wieder zu einem unabhängigen demo-
kratischen Staat, und die Alpenrepu-
blik verpflichtete sich im Gegenzug zu
immerwährender Neutralität. «Öster-

reich ist frei!», lauteten die berühmten
Worte von damals.
Die Befreiung wäre allerdings ohne
eine Lösung der Erdölfrage nicht mög-
lich gewesen. Österreich musste sich
verpflichten, in den folgenden zehnJah-
ren nochmals 10 Mio.tErdöl an die
Sowjetunion zu liefern – später wurde
die Menge auf6Mio.treduziert. So
schickteWien als «Preis» für den Staats-
vertrag bis1964 nochmalsRohstoffe im
Gegenwert von geschätzten 100Mio.$
(rund1Mrd.$zum heutigenWert) nach
Moskau. Insgesamt hatten die Sowjets
die Bodenschätze imWiener Becken
fast zweiJahrzehnte lang als versteckte
Reparationen ausgebeutet.
Mit dem Abzug der Sowjets wurde
aus der Sowjetischen Mineralöl-Ver-
waltung imJahr1956 die Österreichi-
sche Mineralöl-Verwaltung (zunächst
ÖMV, später OMV). Über dieJahr-
zehnte entwuchs das Unternehmen den
WeinviertlerWurzeln. Heute unterhält
die teilstaatliche OMVFörderaktivitä-
tenin 14 Ländern vonRussland über
Abu Dhabi bis nach Malaysia und Neu-
seeland, sie betreibt zudemRaffinerien,
Pipelines und Tankstellennetze. Mit
23 Mrd. € Umsatz ist das Unternehmen
der umsatzstärksteKonzern Österreichs.
Das Weinviertel ist für die OMV aller-
dings wichtig geblieben. «In Gänsern-
dorf betreiben wir unser globalesTech-

nologie- und Entwicklungszentrum»,
sagt OMV-Vizechef Pleininger. «Hier
testen wirTechnologien zurAusbeutung
reiferFelder undrollen sie dann welt-
weit aus.»Dabei geht es um viel. Nor-
malerweise werden Erdölfelder nur zu
gut 30% ausgebeutet – dierestlichen
Kohlenwasserstoffe bleiben im Boden.
ImWeinviertelkommt die OMV hin-
gegen auf bis zu 60% bei Erdöl und bis

zu 90% bei Erdgas.Dieser sogenannte
Entölungsgrad ist ein wichtigerFaktor
in der Branche. «Es ist noch nie einFeld
geschlossen worden, weil eskein Öl oder
Gas mehr im Boden gab, sondern weil
dieses nicht mehr wirtschaftlich förder-
bar war», erklärt Pleininger.

BohrenzwischenWeinbergen


Erdöl und Erdgas liegen nicht, wie man
vielleicht denkenkönnte, in Seen oder
KammernimUntergrund.Vielmehr ist
es in kleinstenPoren im Gestein ein-
geschlossen. ImWiener Becken tau-
chen die Kalkalpen, vonWesten aus der
Schweiz und dem alpinen Österreich
kommend, auf über 40 00 MeterTiefe ab.
Darüber haben sich vor 20 Mio. Jahren
aus den Sedimenten des Urmeeres ver-
schiedene Gesteinsschichten abgelagert,
in denen neben Salzwasser auch Erdöl
und Erdgas eingeschlossen sind.
Durch Bohrungen kann man an diese
Bodenschätze herankommen. Anfangs
reicht der grosse Druck im Boden, dass
ein Gemisch von Salzwasser und Erdöl
und Erdgas aus dem Gestein ins Bohr-
loch gepresst wird und von dortdurch
hermetisch abgedichtete Stahlrohre an
die Oberfläche fliesst. Meist muss man
aber mit Pferdekopf-Pumpen nach-
helfen. ImWeinviertel verrichten diese
an Hunderten Stellen ihren Dienst. In ge-
mächlichemTakt heben und senken sie
ihreKöpfe. Oft stehen sie in Bio-Äckern
oder zwischenWeinbergen, die das agra-
rischeWeinviertel prägen. In den vergan-
genenJahren sind in der Nachbarschaft
auch vieleWindräder dazugekommen.
Was macht die OMV technologisch
führend bei derAusbeutungreifer, also
schon lange betriebenerFelder?«Wir
haben das Bohren nicht erfunden, aber
wir haben die besten Bohrleute mit viel
Know-how», sagt Pleininger. EinFak-
toristPräzision: DieÖsterreicherkön-
nen aus 60 00 Metern einen Punkt von
der Grösse einerTür anpeilen und so die
idealen Stellen für eine Bohrung treffen.
Zudem bohren sie inTausenden Metern
Tiefe auch quer oder horizontal – mit sol-
chen Designbohrungen lässt sich einFeld
besser erschliessen. Fernerkommen etwa
Wasser-Injektions-Systeme zum Einsatz,
bei denen Salzwasser in dieLagerstätten
gepresst und so das Erdöl leichtflüssiger
gemacht wird.«Insgesamtkönnen wir
den Entölungsgrad um gut 15Prozent-
punkte erhöhen», sagt Pleininger.

KeinEnde inSicht


Das Know-hof fürreifeFelder hilft der
OMV bei internationalenPartnerschaf-
ten. Jüngst hat das UnternehmenJoint
Ventures in AbuDhabi und Malaysia
abgeschlossen.Dabei hat das technolo-
gischeWissen eineRolle gespielt.Auch
wenn derzeit viel von Klimaschutz ge-
sprochen wird – nach den gängigen Pro-
gnosen wird die Nachfrage nach Erdöl
und Erdgas vor allem in Asien bis 2050
weiter steigen.Wenn man deutlich mehr
aus einemFeld herausholen kann, ist das
auflängere Zeit hin ein wichtigerFak-
tor. Zudem sinken dieKosten, weil man
nicht aufwendig neueLagerstätten su-
chen und erschliessen muss.
Freilich hängt es vom Ölpreis ab, ob
sich neue Bohrungen lohnen. Als die
Notierungen imJahr 20 15 unter 30 $ je
Fass fielen, gab es imWeinviertel eine
Pause. Zwar führte die OMV die be-
stehendeFörderung fort, aber sie inves-
tierte nicht in neue Erschliessungen. Seit
der Ölpreis wieder deutlich über 50 $
liegt,rechnen sich neue Bohrungen wie-
der. Proteste der lokalen Bevölkerung
hat es dabei kaum je gegeben. Die Erd-
ölförderung sorgt immer noch für viele
Arbeitsplätze in einer eher struktur-
schwachenRegion; sie beschert manchen
BauernPachteinnahmen; und sie spült
den Gemeinden desWeinviertels will-
kommenes Geld in die Gemeindekasse.
«Dank den technologischenFort-
schritten werden wir auch in 20 bis 30
Jahren noch Erdöl imWeinviertel för-
dern», sagt OMV-Vizechef Pleininger.
Das «Glück auf» der Bohrleute wird
man im OstenWiens noch lange hören.

Mit derBohrung «Gösting II» stiess man 1934imWeinviertel erstmals auf eine ergiebige Ölquelle.

Pferdekopf-Pumpen bewegen sichingemächlichemTempo auf und ab–mitteninBio-Äckern. BILDER PD
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