Freitag, 18. Oktober 2019 FEUILLETON 37
Katalonien klingt – jetzt erst recht
Die unklare po litische Situation hat gewaltig e Auswirkun gen auf das kulturelle Leben
MARCO FREI,BARCELONA
Seine Musik ist schroffer geworden,
auch gewaltvoller.Vieles strebt in die
Vertikale. DieAusbrüche sindroh, und
oftmals wird jederLyrismus vom Schlag-
werk geradezu niedergeknüppelt. So
präsentiert sich die Oper «DieWohl-
gesinnten» von HéctorParra nach dem
gleichnamigenRoman vonJonathan
Littell, die imFrühjahr in Antwerpen
uraufgeführt wurde. Für den führenden
Komponisten Kataloniens ist diese Ge-
walt ungewöhnlich – «Ich suche den ge-
sellschaftlichenFrieden», betont er.
Musikund Wirklichkeit
Doch dieWunden klaffen tief, seit im
Herbst 2017 in Katalonien dasRefe-
rendum über die Unabhängigkeit abge-
halten wurde.Die Fernsehbilder gehen
Parra nicht aus demKopf. «Menschen
gehen friedlich auf die Strasse und wer-
den von derPolizei niedergeknüppelt.
Das hat michentsetzt.»Parra lebt in
Paris, stammt aber ausBarcelona.Von
den dortigen Eindrücken sind seine
jüngstenWerke geprägt. Den hörbaren
stilistischenWendepunkt markiert «In-
scape» für Ensemble und Orchester
mit Elektronik. Im Mai 2018 wurde es
im Musikzentrum «Auditori» vonBar-
celona uraufgeführt. In der Zwischen-
zeit hat sich im katalanischenKultur-
leben zwar einiges verändert, aber von
einer Entspannung im kulturellen Be-
reich kannkeine Rede sein.
Was die Ungewissheit für das Musik-
leben bedeutet, zeigte sich bereits im
«heissen Herbst» 2017. Einige Unter-
nehmen undBanken – wichtige Geld-
geber derKultur – zogen ihre Zentralen
ausBarcelona ab, und die Kartenver-
käufe brachen ein.Dabei hatte sich die
Szene gerade erst von derWirtschafts-
undFinanzkrise nach 2008 erholt.
Seither hat sich viel entwickelt in
Katalonien –erstaunlicherweise sogar in
der Orgelszene, obwohl das Instrument
hier, historisch bedingt, einen schweren
Stand hat. Denn der Spanische Bürger-
krieg zwischenFranco-Faschisten und
Sozialisten tobte in Katalonien beson-
ders heftig. Die Kirche schlug sich auf
die SeiteFrancos, und als ihrSymbol
wurde die Orgel für dieAufständischen
zum Hassobjekt. Noch am18.Juli 1936,
einenTagvor Beginn der Kämpfe,gibt
es inBarcelona rund siebzig Orgeln.
EinenTag später sind es nurmehr zwölf,
nach einerWoche lediglich fünf. Seit gut
einemJahrzehnt erlebt Katalonien nun
eine beispiellose Orgelrenaissance.Viele
Instrumente wurdenrestauriert oder er-
setzt. Bereits 2012 wurde im KlosterPo-
blet in der ProvinzTarragona ein neues
Instrument eingeweiht, gebaut von der
Firma Metzler in Zürich.
Im September 2018 folgte die Inau-
guration einer neuen Orgelvon Gerhard
Grenzing in derBasilika «La Mercè» in
Barcelona – mit MontserratTorrent,
der berühmten, inzwischen 93-jähri-
gen Organistin Kataloniens. Diese Or-
geleinweihung wurde ein Grossereig-
nis,allerdings nichtnur im Guten.Wer
sich vonseiten der Stadtpolitik inBarce-
lona für die neue Orgel eingesetzthatte,
sah sich mitunter einem «Shitstorm» in
den sozialen Netzwerken ausgesetzt.
FürTorrent ist das besonders schmerz-
haft, weil sie den Bürgerkrieg und den
Faschismus er- und überlebt hat.
Gemeinsam mit dem bedeutenden
Originalklang-PionierJordi Sa vall war
Torrent stets die «Stimme derFreiheit»
der Klassikszene Kataloniens. «Ich habe
immer gesagt, dass ich katalanisch sei,
aberkeine ’Katalanistin’«, betontTor-
rent, womit siejedweden Nationalis-
mus weit von sich weist. Die Geister der
Vergangenheit sind freilich immer noch
oder schon wieder auf neueWeise aktiv.
Mängelim System
Auch ein Blick auf das1999 eröff nete
«Auditori» und das dort beheimatete
Orquestra Simfònica de Barcelona
(OBC) offenbart die Mängelimpoliti-
schen Gefüge Spaniens. Beide Institutio-
nen werden subventioniert und dürfen
sich mit dem Attribut «national» schmü-
cken. Ein Blick nach Madrid verrät
allerdings Ungleichheiten: Als Haupt-
orchesterKataloniens verfügt das OBC
nicht annähernd über ein ähnlich hohes
Budget wie das Orquesta Nacional de
España (ONE) in Madrid.Aus der letz-
ten Wirtschaftskrise stammt zudem ein
Gesetz, wonachstaatliche Stellen nach
Pensionierungen nicht neu besetzt wer-
den dürfen.Dasgilt auch für Orchester
wie das OBC, die von der öffentlichen
Hand getragen werden; die einzigeAus-
nahme ist das ONE in Madrid.
Es sind solcheunsensiblen Gesetz-
gebungen, die Spanien nicht einen, son-
dern spalten. Andererseits verlangen in
Katalonien mancheVeranstalter dezi-
diert «katalanische» Programme, um
Fördermittel abzuschöpfen.EineKultur-
und Programmpolitik aber, welche die
«Nationalität von Musik» in denFokus
rückt, ist im Zweifel weder internatio-
nal wettbewerbsfähignoch – im europäi-
schenKontext – glaubwürdig. Zugleich
fällt auf, dass in Katalonien dieFörde-
rung der klassischenKultur zu wün-
schen übrig lässt, wie in ganz Spanien.
Darunterleiden gerade junge Kam-
merensembles, obwohl auch die Kam-
mermusik in Katalonien einenAuf-
schwung erlebt. So wurden 2004 und
2006 im prächtigenPalau de la Música
Catalana sowie im «Auditori» Kammer-
musik-Säle eröffnet. Im «Auditori»resi-
diert das Cuarteto Casals, eine der bes-
ten Streichquartett-Formationen unse-
rer Zeit, und hat in Katalonien unter-
dessen weitere Quartettgründungen
inspiriert, zuletzt das blutjunge Cuarteto
Cosmos.Als Mitglieder der European
Chamber Music Association (ECMA)
tauschen sich die vier«Cosmonauten»
regelmässig mit anderenFormationen
aus und lassen damit zugleich jedes
regional verengte Denken hinter sich.
Viele junge Ensembles aus anderen
Ländern erführen Unterstützung, be-
richten sie, etwa inForm von Anschub-
finanzierungen oder Zuschüssen für
Reisen. «In Spanien ist das überhaupt
nicht derFall.» Für den Gesang weiss
Marta Mathéu Ähnliches zu berichten.
Die Sopranistin stammt ausTarragona,
glänztmit agiler, stilbewusster Flexibili-
tät. «Wer nicht imAusland studiert, be-
kommt hier wenig Anerkennung», klagt
Mathéu. «Erst wenn man imAusland
etwas geworden ist,öffnen sich plötz-
lich dieTüren.» DieLaufbahn des inzwi-
schen international gefragten Counter-
tenors Xavier Sabata ausBarcelona be-
stätigt die Schilderungen Mathéus.
«Ich hatte meinen Start inFrank-
reich, Deutschland, der Schweiz und
anderswo», erinnert sich Sabata.«Aus
derFerne haben einige in Katalonien
meinenWerdegang beobachtet und sind
auf mich aufmerksam geworden.Ȁhn-
lichverlief dieLaufbahn vonParra, der
gleichsam erst nachParis übersiedeln
musste, um in seiner Heimat Gehör zu
finden. Sabata wirkte zuletzt imFebruar
am GranTeatre del Liceu, dem noch vor
Madrid bedeutendsten Opernhaus des
Landes, an der Uraufführung der Oper
«L’enigma di Lea» von Benet Casa-
blancas mit. Es sind gerade solche neuen
Opern oder auchAufführungen von
Raritäten aus dem überreichen Erbe, die
das «Liceu» für auswärtige Gäste attrak-
tiv machen.
KulturelleIgnoranz
An dieser programmatischen Linie
möchteVíctor García de Gomar,der
neue künstlerischeDirektor am «Liceu »,
grundsätzlich festhalten, um die «Per-
sönlichkeit» des Hauses zu stärken.Von
der Hamburgerin Christina Scheppel-
mann hat er das Amt übernommen, zu-
vor war erambenachbarten «Palau»
als assistierender künstlerischer Direk-
tor tätig. Die erste gänzlich eigenstän-
dig geplante Saison wird García de Go-
mar 2022/23 vorlegen.
Generell möchte García de Gomar
mehr eigene Neuproduktionenrealisie-
ren, aber: Mit einemJahresbudget von
momentan rund 46 Millionen Euro sind
am «Liceu» grosseVisionen nur einge-
schränkt möglich. Knapp die Hälfte des
Budgets steuert die öffentliche Hand
bei, derRest muss aus eigener Kraft ein-
geworben und eingespielt werden. Zu-
dem fallen jede Spielzeit bis zu 2 Millio-
nen Euro weg, um einen Schuldenberg
aus der Zeitvor 2014 abzubauen.
In der Saison 2022/23 soll das«Liceu»
komplett schuldenfreisein, und imLaufe
der nächsten fünfJahre ist eine Steige-
rung des Budgets auf rund 50 Millionen
Euro geplant.Auch das ist nicht gerade
üppig im internationalenVergleich. Der
vielbeschworene Stolz von Spaniern und
Katalanen auf ihreKultur stösst glei-
chermassenrasch an Grenzen, wenn es
um derenFörderung geht. Hierin glei-
chen sich die Mentalitäten auffallend.
In Barcelona hört das nicht jeder gerne.
Mit überbordenderPrachtempfängtder Palau de la Musica Catalana inBarcelona Musikerund Publikum. GUSTAU NACARINO / REUTERS
Soll Joyce fortan
in Irland ruhen?
Dublin s Stadtrat blickt begehrlich
auf dasZürcherGrab
ANGELA SCHADER
Der Mensch ist seltsam. Irgendetwas
rührt einem an die Seele, wenn man
auf demFriedhof Fluntern vorJames
Joyce’ letzterRuhestatt steht;doch die-
ser Hauch bliebe wohl aus, wenn man
wüsste, dass die Statue des Schriftstellers
über einem leeren Grab sinniert.
Besuchern des ZürcherFriedhofs
könnte genau das blühen, wenn es nach
Dermot Lacey undPaddy McCartan
geht. Die beiden Mitglieder desDubli-
ner Stadtrats haben am Montag dieser
Woche eine Motion angestossen, um die
sterblichen ÜberresteJoyce’und seiner
Angehörigen nachDublin überführen
zu lassen; 2022, wenn sich das Erschei-
nen des «Ulysses» zum hundertsten Mal
jährt, möchte man den berühmtesten
Sohn der Stadt wieder bei sich haben.
Kehrtwende
Es ist bekannt, dass die Beziehung des
Schriftstellers zu seiner Heimat zutiefst
ambivalent war. «Niemand,der ein Gran
Selbstachtung hat, bleibt in Irland», be-
merkte er in einerVorlesung, und seinen
Abschied vonDublin markierte er mit
einem Schmähgedicht auf die dortige
Literatenszene. Irland vergalt es ihm –
nicht nur durch dieTorpedierung seiner
Werke, sondern auch, indem die Bitte
vonJoyce’ Fr au Nora, dem Schriftstel-
ler ein Grab in der Heimat zu gewähren,
von der irischenRegierung zweimal ab-
schlägig beantwortet wurde. Den kriti-
schen Blick auf die katholische Kirche
hatte manJoyce nicht verziehen.
Nun also dieKehrtwende, die ironi-
scherweise auf eben jener vergeblichen
Bitte fusst: DieFamilie habe damals ge-
wünscht, dass derVerstorbenerepatri-
iert werde, meintLacey, und darum sei
es «richtig und anständig», dies auch zu
tun. Der irische SenatorDavid Nor-
ris,der sich schon vorJahrzehntenum
eine Rückführung der Gebeine be-
müht hatte, kontert dürr: «Das führte
damals nirgendwohin, und letztlich sind
es ja nur Knochen. Und als wir seiner-
zeit Yeats’ sterbliche Überresterepatri-
ieren wollten, haben sie denFalschen
ex humiert.»
Im Präsidialdepartementder Stadt
Zürich hat man das Wetterleuchten
wahrgenommen. Eine Exhumierung
sei zwar möglich, aber zeitaufwendig
und teuer, erklärt dieSprecherin Astrid
Herrmann; auch unternehme man die-
sen Schritt nur inAusnahmefällen, da
grundsätzlichdie Totenruhe nicht ge-
stört werden solle. Da es sich in diesem
Fall um ein von der Stadt Zürich gestif-
tetes Ehrengrab handelt, müsste die An-
gelegenheit – was auch der irischen Seite
bewusst ist – aber wohl ohnehin aufpoli-
tischer Ebene angegangen werden.
«Lasst sieruhn, wo sie sind»
Fritz Senn, der Leiter der Zürcher
James-Joyce-Stiftung, weist noch auf
ein e weitere Komplikation hin: Im
Ehrengrab ist nebenJoyce’ Gattin und
seinem Sohn Giorgio auch dessen Ehe-
frau Asta Osterwalder beigesetzt, und
diese habe mit Irland nichts zu tun. Er
sei überzeugt, sagt Senn, «dass der un-
bedachte Plan nicht zustandekommen
wird, weil einmal dierechtliche Seite
ziemlich problematisch ist und vor allem
die Zusage des Enkels, StephenJames
Joyce, ausbleiben wird.Lasst sie ruhn,
wo sie sind und hingehören.»
Ursula Zeller, Kuratorin der Stif-
tung, gibt zu bedenken: «Joyce ruht nun
schon länger in Zürich, als sein ganzes
Leben gedauert hat. So eng seinWerk
mit Irland verbunden ist, so sehr hat
er sich selber stets alsexileverstanden.
Irland besuchte er als Dreissigjähri-
ger kurz ein letztes Mal.» IhreKolle-
gin Ruth Frehnerkonzediert: «Natür-
lich wäre es für dieJoyce-Stiftung ein
Verlust.» Sie hält denVorstoss jedoch
ebenfalls für ein «ziemlich unausgego-
renes undauch letztlich absurdes Ansin-
nen:Joyce ist seit bald achtzigJahren tot,
und selbst fürReliquien bleibt da nicht
viel übrig. Doch vielleicht hätte er dar-
über gelacht.»