Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

Freitag, 18. Oktober 2019 FEUILLETON 39


Alles ist Licht, Farbe und Spiegelung


Renée Levi ist die Schweizer Künstlerinder Stunde. InBaden lässt sie ineiner fulminantenSchau geradedie Räume tanzen


ROMANHOLLENSTEIN


Auch wenn sich unserLand bis vor nicht
allzu langer Zeit als Bollwerk desPatri-
archats gefiel, hat es in den letzten hun-
dertJahren eineVielzahl aussergewöhn-
licherKünstlerinnen hervorgebracht –
von Meret Oppenheim und SophieTa -
euber bis Claudia Comte und Pipilotti
Rist. Sie alle sind mit ihren männlichen
Kollegen auf Augenhöhe. Zwei die-
ser starkenFrauen sind nun dankAus-
stellungen im In- undAusland allent-
halben im Gespräch: die beidenBasle-
rinnenMiriam Cahn undRenée Levi,
die in ihrem künstlerischenAusdruck
nicht unterschiedlicher sein könnten.
Beleuchtet Cahn mit ihren expressiven
Visionen psychischeAbgründe, Gefühle
und Ängste, so lotet Levi mitFarblicht
denRaum aus. Beiden gemeinsam aber
sind das intuitive Schaffen und die in den
letztenJahren stetig gewachsene Lust auf
eine immer farbintensivere Malweise.
Derzeit begeistertRenée Levi die
Besucher derKunstbiennale vonLyon,
der wichtigstenFrankreichs, mit einem
Farbenwirbel inRot und Blau, der den
ersten Stock des dortigen Musée d’art
contemporain (MAC) gleichsam in ein
dreidimensionales Gemälde verwan-
delt.Ausserdemkommt sie inParis in
einer wichtigen Galerieausstellung zum
Zug, während Genf sie nicht nur mit
dem alle zweiJahre verliehenen und mit
50000 Franken dotiertenKunstpreisder
Société desArts ehrt,sondern ihr dar-
über hinausauch noch eine von Karine
Tissot betreuteAusstellung imPalais de
l’Athénée und eine dreisprachige Mono-
grafie offeriert.


Interventionen am Bau


Seit ihrer Mamco-Ausstellung imJahr
2000 und einer kurz darauf für die neue
Montbrillant-SchulerealisiertenKunst-
am-Bau-Arbeit ist Levi in Genfkeine
Unbekannte mehr.Man schätztdort ihre
Arbeiten, mit denen sie seit gut dreissig
Jahren die Möglichkeiten der Malerei im
gebauten Umfelderkundet, genauso wie
in der Deutschschweiz. Ursprünglich stu-
dierte die1960 in Istanbul geborene und
im Kanton Aargau aufgewachseneBas-
lerKünstlerin Architektur und arbei-
tete dann mit Herzog & de Meuron zu-
sammen. Schon früh wagte sie sich mit
architektonisch geschultem Sinn für das
Räumliche an eine ortsspezifische, instal-
lativ-konzeptuelle Erforschung unserer
Wahrnehmung. Als sich die jungenWil-
den auf der Leinwand austobten, näherte
sie sich der lange totgeglaubten Malerei
auf einer abstrakten Ebene und schuf
neben ersten Experimenten mitFarbe
undForm imRaum auch Monochromien
in Orange, Schwarz undRot auf zusam-
mengeklebtenPapiertragtaschen, Span-
platten oder Schaumstoffkuben.
Diese einfarbigen Gemälde erinner-
ten anWerke der postminimalistischen


radikalen Malerei, doch die objekt-
artigen Bildträger wiesen ins Skulptu-
rale. Bis heute sieht Levi ihre aus dem
Wechselspiel von Licht,Farbe,Textur,
Oberfläche und Materialresultieren-
den Arbeiten alsTeil grösserer Instal-
lationen. So führten ihre künstlerischen
Recherchen bald schon zu unkonventio-
nellen Interventionen anBauwerken:
beim Dreirosenschulhaus1997 inBasel
etwa oder im Luzerner Grossratssaal
(20 01 ). Seither gilt sie alsVertreterin
jenerKünstlergeneration, die – um mit
KarineTissot zu sprechen – ihr Schaf-
fen «in seinem potenziellenVerhältnis
zur Architektur als analytischesWerk-
zeug begreift». Ihre Arbeiten sprechen
die Sinne an, verweisenaber auch auf
die Bedeutung öffentlicher und halb-
öffentlicherRäume undnehmen so eine
gesellschaftspolitische Haltung ein.Da-
durch unterscheiden sie sich von den
eher ästhetisch ausgerichtetenWerken
ihrer ebenfallsräumlich schaffenden
Kolleginnen, die derzeit in derFonda-
tion Beyeler dieAusstellung «Resona-
ting Spaces» bestreiten.

Seit der letzten grossen Schwei-
zer Einzelausstellung 2008 inThun ist
Renée Levis Schaffen nochraumgrei-
fender, freierund gestischer geworden.
Das zeigt die 5 mal 12 Meter grosse, mit
pinkfarbenen Kringeln bemalte Lein-
wandarbeit «Amelia», die derzeit wie
ein knalligerTeppich auf demParkett-
boden der SalleCrosnierimGenferPa-
lais de l’Athénée ausgebreitet ist.

Zwischen grossen Meistern


DiesemWerk antwortet nun im Museum
Langmatt inBaden das aus grossen, sma-
ragd- und türkisfarbenen Kreisflächen
bestehende Doppelbild «Baharak».An
die abgedunkelteFensterwand des Ess-
zimmers gelehnt, markiert es den Über-
gang zwischen den Sammlungs- und den
Ausstellungssälen und hält auf geheim-
nisvolleWeise Zwiesprache mit zwei
schon über hundertJahre imBadener
Impressionisten-Haus gehüteten Meis-
terwerken: Claude Monets «Eisschollen
imDämmerlicht» und Camille Pissarros
blaugrüner Eragny-Landschaft.

Das zweiteilige Gemälde bildet den
dramaturgisch geschickten Einstieg in
die fulminante Schau,die das Museum
Langmatt derzeitRenée Levi widmet.
Es leitet hinüber in die Bibliothek, wo
schräg imRaum aufragende Gemälde
einen spannungsvollen Dialogmit drei
Früchtestillleben vonPaul Cézanne, aber
auch mit dem historischen Ambiente
suchen. Der spektakuläre Höhepunkt
derAusstellung erwartet einen aber in
der1906 von Karl Moser erbauten Ge-
mäldegalerie. Hier, wo sich sonst Meis-
terwerkevon Corot überRenoir bisvan
Gogh wie an einerPerlenschnurreihen,
ist nun alles Licht, Farbe undSpiegelung.
Der Saal scheint zu pulsieren, ja zu tan-
zen.Bald wähnt man sich in einem be-
gehbaren Gemälde, bald in einem bun-
tenLabyrinth oder in einem chaotischen
Bilderlager, in dem nur einige wie zu-
fällig an dieVertäfelung gelehnte oder
weit oben an derWand befestigte Lein-
wände an die eigentlicheFunktion die-
ses musealen Saals denken lassen.
Ihren Abschluss finden LevisFarb-
inszenierungen im stimmungsvollen

Villenpark, wo zwischenBäumen und
Büschen eine riesige bemalte Lein-
wand sich ganz gelassen in die Natur
einfügt. Die jegliche Monumentali-
tätrelativierendeFragilität von Levis
Grossformaten kommt bei diesem
auratischenWerk, das entgegen allen
kuratorischen Geboten derWitterung
ausgesetzt ist, voll zumTr agen. Bis
zumAusstellungsende im Dezember
wirdesPatina angesetzthaben,wenn
es nicht vorher in sich zusammenfällt,
sind doch schon jetzt die Verstrebun-
gen desKeilrahmens bedrohlich ge-
krümmt. Die oft vonRenée Levi be-
schworene «Balance zwischen sinn-
licher Präsenz und fragilerAuflösung,
zwischenDauer undVerschwinden,
zwischen Mut und Zweifel» kam wohl
ni e deutlicher zur Entfaltung als hier
im Garten derLangmatt.

Bis8. Dezember imMuseumLangmatt in Ba-
den. Katalog zu den Ausstellungenin Genf und
Baden: RenéeLevi (frz., dt., engl.). Hrsg. Karine
Tissot /Société des Arts deGenève.Verlag
HatjeCantz, Berlin 2019. 128S., Fr. 38.–.

Renée Levis Monochromien erinnern an die postminimalistische radikaleMalerei, hier dasWerk «Rhabarber 8». GIULIO BOEM

Dr. Ruth sagt, wie man’s tut


Mit 91Jahren scheint sie die Lebenskraft einer 19-Jährigen zuhaben.Auchauf der KinoleinwandsprühtRuthWestheimer nun vorTa tendurst


URS BÜHLER


Der einvernehmlicheAustausch von
Körpersäften ist ja demWohlbefinden
erwiesenermassen förderlich. Doch wie
steht es mit dem Sprechen darüber?
Es muss der Lebenskraft ebenso zu-
träglich sein. Dieser Erkenntnis kann
man sich jedenfalls nicht erwehren an-
gesichts dieses Energiebündels: Ruth
Westheimer hat über Sex so viel in der
Öffentlichkeit geredet wie kaum je-
mand – und sprüht mit 91Jahren vor
Daseinslust und Inspiration.
Aus erster Hand weiss ich das seit
einem unvergesslichen Gespräch mit
Dr. Ruth in meinem Büro vor vierJah-
ren.Dabei offenbarte sich ihreSchwä-
che für Milchschokolade (ich hielt ihr
auf ihrenWunsch eineTafel bereit), und
ihre Regieanweisungen(«‹Neue Zür-


cher Zeitung›: aufschreiben!») hallen bis
heute in mir nach wie ihr heiser gurgeln-
desLachen. Ob wir nun über ihre Kind-
heit sprachen, die der Holocaust in zwei
Teile zerriss, oder über ihre lebensbeja-
hende Grundhaltung: Sie bestätigte ihren
Ruf als begnadeteKommunikatorin.
Seit dieserWoche vermittelt in den
hiesigen Kinos eine Dokumentation eine
Ahnung von dieser pulsierenden Kraft:
Mit«Ask Dr. Ruth», benannt nach ihrer
einstigenFernsehshow, widmet ihr der
amerikanischeFilmemacherRyanWhite
eine Hommage. Selbst die eine oder an-
dere Schmalzschicht diesesWerks kann
die Eigenwilligkeit nicht übertünchen:
derTonfall soresolut wie das Haar zer-
zaust, der deutscheAkzent auch nach
Jahrzehnten in Amerika noch in voller
Knackigkeit präsent–und jeder der 140
ZentimeterKörperlänge ein Exempel für

Resilienz.Ihre deutschjüdischen Eltern
wurden nachAuschwitzdeportiert und
dort ermordet; vorher hatten sie noch
veranlassenkönnen, dass die zehnjährige
Tochter mit 300 anderen Kindern per
Zug vonFrankfurt am Main ins appen-
zellischeHeiden und somit in Sicherheit
gebracht wurde.
Nach Amerika kamRuth KarolaWest-
heimer, geborene Siegel, dann1956, um
ih reSehnsucht nach demLand der un-
begrenztenMöglichkeiten zu stillen.Sie
stiess auf eng begrenzte Sexualmoral –
und begann Anfang der achtzigerJahre
amRadio so explizit überVerkehrsfragen
zu sprechen wie niemand zuvor.Ameri-
kas bigotten Geistern las sie mitVerve
und Humor die Leviten, kämpfte für
legalisierte Abtreibung,selbstbestimmte
weibliche Sexualität, Akzeptanz für
gleichgeschlechtliche Liebe.

Denratsuchenden Individuen aber
begegnete sie mit grossem Einfühlungs-
vermögen. Unzählige soll die promo-
vierte Soziologin mit sexualtherapeu-
tischerAusbildung vor dem Suizid be-
wahrt haben. Sie linderte ihreAngst,
ihreWünsche seien unnatürlich, mit die-
ser Botschaft:Was zweiPersonen ein-
vernehmlich privat miteinander anstel-
len, sei es im Bett oder auf demKüchen-
boden, ist in Ordnung.Und auch, wenn
eseinePerson allein tut.Was sie von alle-
dem selbst praktiziert hat, liess siekoket-
tierend offen. Einmal erklärte sie scher-
zend, warum sie ihren damaligen Gatten
nie in eineTherapiestunde mitbrächte:
Er würde verraten, dass das alles nur
Worte seien.
Dr. Ruth wirkt und kämpft unermüd-
lich weiter, mit vollem Terminkalen-
der und entwaffnendemLachen.Dabei

bezeichnet sie,die so unbefangen über
Techniken und Praktikenreferiert, ihre
Ansichten zu Beziehungen und Sexuali-
tät als altmodisch: DieWerte der Mono-
gamie hält die vierfache Grossmutter
hoch, das Schlafzimmer sieht sie als Pri-
vatsphärean.Daran muss ichmitunter
denken, wenn heute Heranwachsende im
öffentlichenVerkehr lauthals ihresexu-
ellen Eskapaden der vergangenen Nacht
erörtern, auf allen Kanälen ständig über
Sex gelabert, aufTheaterbühnenkopu-
liert und in bald jedem Spielfilm minu-
tenlang vorAugen geführtwird, was man
sich doch selbst ausmalenkönnte.
Vielleicht hätte Dr. Ruth gelacht,
wenn ich berichtet hätte, dass mir das
alles manchmal zu viel und auch etwas
peinlich wird.Womöglichhätte sie aber
auch verständnisvoll genickt, wie sie das
oft tut.
Free download pdf