Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

44 SPORT Freitag, 18. Oktober 2019


Soschlecht wie seit 30Jahren nicht mehr: Die Fussballer


von Manchester Unitedstecken in der Krise SEITE 43


Besser als in Deutschland: Der Video-Schiedsrichter


erfüllt die Erwartungenin der Super League SEITE 43


DerTausender-Klub
Name NLA-Spiele letztePartie
Mathias Seger 1167 2017/18
Beat Gerber 11084
Ronnie Rüeger 1078 2012/13
Ryan Gardner 1075 2016/17
Ivo Rüthemann 1072 2013/14
Gil Montandon 1069 2008/09
Sven Lindemann 1045 2018/19
Sébastien Reuille 1035 2018/19
Martin Steinegger 1023 2011/12
Marc Reichert 1022 2016/17
Fabian Sutter 11021 2017/18
Reto von Arx 1004 2014/15
Andres Ambühl 11000
1noch aktiv QUELLE: NATIONAL LEAGUE

Tausendundeine Nacht

Andres Ambühl ist über den HC Davos hinaus eine Institution, er prägte das Schweizer Eishockey wie Mathias Seger oder Martin Plüss


DANIEL GERMANN


Wenn der HCDavos amFreitag gegen
den EHC Biel das erste Heimspiel der
Saison bestreitet,wird zuerst geredet
und gefeiert. Es wird Blumen geben,
Applaus und auch ein paar Devotiona-
lien,die das Ereignisangemessen würdi-
gen.Der Klubpräsident Gaudenz Dome-
nig und der Ligadirektor DenisVaucher
werdenWorte der Anerkennung,des
tiefenRespekts suchen und finden. Und
Andres Ambühl, um den es dabei geht,
wird mit dem Gesichtsausdruck eines
Jungen, der beim Griff in die Haushalts-
kasse der Mutter erwischt worden ist,an
der blauen Linie stehen und hoffen,dass
all das möglichstrasch vorbei sein mag.
Damit er das machen kann, was er am
liebsten tut: Eishockey spielen.
Ambühl bestreitetam Freitag sein
1001.Spiel in der National League, seine
1001.Nacht voller Energie und Leiden-
schaft im Schweizer Eishockey. Man
wird ihn über das Eis fliegen und die
Gegner checken sehen, als wäre er noch
immer der17-jährigeJüngling aus dem
Sertigtal, der imFrühjahr 2001 zur ers-
ten Mannschaft des HCD stiess. Gespro-
chen hat er dabei nur,wenn es sich nicht
vermeiden liess. Der ehemalige Mitspie-
ler und heutige NationaltrainerPatrick
Fischer sagt: «Man hat in der Kabine
meist gar nicht gemerkt, dass Ambühl
da ist.Dafür war er danach auf dem Eis
umso auffälliger.»
Zwölf Spieler haben vorAndresAm-
bühl die magische Marke von 1000Liga-
spielen erreicht,und doch haben nur die
wenigsten von ihnen so tiefe Spuren im
Schweizer Eishockey hinterlassen wie
Ambühl: 6 Meistertitel mit dem HCD
und den ZSC Lions, dazu15 Weltmeis-
terschaften und4Olympiaturnieremit
der Silbermedaille 2013in Stockholm
als Höhepunkt. Ambühl war immer da,
wenn es ihn brauchte.Als ihmFischer
im Frühjahr 2018 beschied, er verzichte
für die WM ausnahmsweise auf ihn, da-
mit er sich von seinerFussverletzung er-
holen und dem nicht mehr ganz jungen
Körper einePause gönnenkönne, da
passte das Ambühl ganz und gar nicht.
Pausen sind für einen wie ihnreine Zeit-
verschwendung.


DieWurzelnim Sertigtal


Andres Ambühlist dasPerpetuum mo-
bile des Schweizer Eishockeys, ein Spie-
ler, der auch dann noch Energie fin-
det und weiterläuft, wenn rund um ihn
bereits alle auf dem Zahnfleisch krie-
chen.Fischer sagt,Ambühl sei imFrüh-
jahr 2000 erstmals aufgefallen.Da war
Fischer noch nicht Nationaltrainer, son-
dern der Captain des HCD. «Auf dem
Weg in den Kraftraum sah ich einen jun-
gen Spieler, der allein und einsam über
das Eis hetzte. Da wussteich:Mein Gott,
da kommt etwas auf uns zu.»
Wer wissen will,was Ambühl an-
treibt, muss in seineVergangenheit ein-
tauchen. DerWeg zu ihr führt vom fast
schon urbanenDavos in die Sertig, ein
Davoser Seitental, das vonLand- und
Alpwirtschaft geprägt ist. Die Som-
mer sind dort oben amRande derWelt
kurz,die Winter dafür umso länger und
härter. Inmitten der wildromantischen
Idylle steht derBauernhof, auf demAm-
bühl gross geworden ist. Seine Biogra-
fie ist die eines typischen Bergbauern-
kindes. Schon in früherJugendmusste
er auf dem heimischen Hof anpacken.
Während seine Schulkollegen an den
Treffpunkten im Dorf anbandelten und
Schritt für Schritt erwachsen wurden,
hütete er mit den drei jüngeren Schwes-
tern dasVieh der Eltern.
Daseinfache, entbehrungsreicheLe-
ben hatAmbühl geprägt.Er sagt:«Wenn
die Kühe imWinter etwas zu fressen
haben sollen, muss man im Sommer da-


für arbeiten.» In dem Satz verdichtet
sich die Überzeugung, die seine Karriere
geprägt hat.Ambühlglaubtan denWert
derArbeit,und er lebt ihn in jedemTrai-
ning , in jedem Match vor.Wie jeder an-
dere Spieler hat er gute und weniger
gute Spiele,verpasst Chancen, lässt sich
zuweilen auch zu einem dummenFoul
hinreissen. Doch was man nichtkennt,
ist ein Ambühl, der nicht kämpft.
Jeder seinerTrainer schätzte Am-
bühls Arbeitsethos. Bob Hartley, mit
dem er imFrühjahr 2012 denTitel mit
den ZSC Lions gewann, sah in Ambühl
die eigene Überzeugung vomWert der
Arbeit zu Fleisch geworden: « Bauern»,
sagte der Kanadier, «arbeiten immer.»
Ambühls aufopferungsvoller Stil,der
Wille, immer alles zu geben, haben ihn
zu einem der beliebtesten Spieler in der
Liga gemacht. Bereits viermal haben
ihn die Zuschauer zum «most popular
player» der Liga gewählt.Wie früher
Mathias Seger oder Martin Plüss gehört
er zu derrare n Gattung derjenigen Spie-
ler, die von den eigenenAnhängern ge-
liebt und von den gegnerischen geach-
tet werden.
Warum das so ist, fasst Ambühl in
drei Wörtern zusammen. «Ich bin ich.»
Das mag nach einer Floskel klingen.
Doch beiAmbühl trifft es denKern.
20 Jahre in der Scheinwelt des Spitzen-
sports haben seinen Charakterkeinen
Deut verändert. Fischer sagt, Ambühl
sei auch heute noch genau jener Spie-
ler, der vor knapp zweiJahrzehnten fast
aus dem Nichts in der Garderobe des
HCD aufgetaucht war und schweigend
in einer Ecke sass.
Als 16-Jährigen lud ihn der damalige
HCD-TrainerArno Del Curto erstmals
ein, mit der ersten Mannschaft zu trai-
nieren.Ambühl tauchte in jenesTeam
ein, das das Schweizer Eishockey über
ein Jahrzehnt lang dominieren sollte.
PatrickFischer war sein erster Captain,
Reto vonArx der unbestrittene Lea-
der und verlängerte Arm Del Curtos
auf dem Eis. DasTeam war gespickt mit
Persönlichkeiten, die nicht nur den ge-
meinsamen Erfolg suchten,sondern zwi-
schendurch auch kräftig auf den Putz
hauten. Es wäre für den jungen, talen-
tierten Ambühl ein Einfaches gewesen,
in der Gruppe abzutauchen und sich mit
ihr treiben zu lassen. Doch das entsprach
nicht seinemWesen. Er suchte seinen
eigenenWeg.

Es war die Zeit, als ein tiefer Riss
durch das Schweizer Eishockey ging.
Zwischen Arno Del Curto und dem
NationaltrainerRalph Krueger, die in
Davos sinnigerweiseTür an Tür wohn-
ten, wütete ein unerbittlicher, von Eitel-
keit geprägter Kampfum Macht. Der
Boulevard sprach von «Zeugen Del Cur-
tos» und «Kruegerianern», deren Über-
zeugungen unvereinbar waren.Auslöser
war derAusschluss vonReto von Arx
aus dem Olympiateam 2002 von Salt
Lake Cit y. Jahrelang folgtendie besten
Spieler der stärksten Schweizer Klub-
mannschaft denAufgeboten des Natio-
nalteams nicht mehr.

DieserTitel mit den ZSC Lions


Die Ausnahme war Andres Ambühl.
Er sagt: «Für mich waren die Spiele mit
der Nationalmannschaft immer speziell.
Schon als Kind habe ichdavo n get räumt,
für die Schweiz zu spielen. Deshalb war
es für mich auch nie einThema, die
Nationalmannschaft zu boykottieren.»
Sein Entscheid wurde vonTeam und
Trainer akzeptiert. Und doch machte er
ihn zu einer ArtAussenseiter in der ver-
schworenen Mannschaft, auch wenn er
selbersich nieals solcher fühlte.
Peter Zahner war damals der Direk-
tor des Nationalmannschaftsprogramms
und versuchte zu vermitteln. Erkennt
Ambühl, seitdem dieser mit16 Jahren
zum ersten Mal für eine nationaleAus-
wahl aufgeboten worden ist. Später, als
CEO der ZSC Lions, holte erAmbühl
nach dessenRückkehr aus Nordamerika
für dreiJahre ins Hallenstadion. Zahner
sagt:«Schon als16-Jährigen in der Nach-

wuchsauswahl hat ihn neben demWillen
vor allem sein Charakter ausgezeichnet.
Ambühl ist immer seinenWeg gegan-
gen. Er gehörte nicht zu den Spielern,
die stundenlang in der Kabine herum-
hingen. Er spielte, duschte, dann war er
weg. Gesprochen hat er nie viel. Doch
wenn er etwas gesagt hat, dann hatte
es meist Hand undFuss, und alle hör-
ten zu.»
Ambühl hat nur175 seiner 10 00
Spiele für die ZSC Lions bestritten.Und
doch sagter, die dreiJahre in Zürich hät-
ten ihn spielerisch, vor allem aber auch
menschlich geprägt. Er löste sich dort
endgültig vom Bild des ewigenDavo-
ser Juniors. Fragt man ihn, welche sei-
ner 1000 Spiele ihm am besten in Er-
innerung geblieben seien, nennt erkei-
nen der fünfTitel mit dem HCD, son-
dern das siebenteFinalspiel 2012, als
die ZSC Lions dem SCB 2,5 Sekunden
vor Schluss denTitel entrissen.Ambühl
hatte denTreffer des kanadischenVer-
teidigers Steve McCarthy damals mit
seinemForechecking eingeleitet.
Dass ihm einTitel mit den ZSC Lions
am erinnerungswürdigsten ist, mag man
ihm inDavos leise übelnehmen. Der
HCD ist sein Klub, und er wird nach der
Karriereauch inerster Linieals HCD-
Spieler in Erinnerung bleiben.Ambühls
Vorfahren wanderten im Hochmittel-
alter aus dem Oberwallis ins Bünd-
nerland ein und liessen sich in der ver-
sumpften Hochebene desLandwasser-
tals nieder. InAmbühlsAdern fliesst ur-
sprünglichesDavoser Blut.Seine Eltern
infizierten ihn früh mit dem HCD-Virus.
Sie besitzen seitJahrzehnten Saison-
karten – und bezahlen die noch heute
aus der eigenenTasche, obwohl ihr Sohn
der Captain desTeams ist.

Wie Torrianioder dieSoguels


2010 brach Ambühl denVersuch, bei
den NewYork RangersFuss zu fassen,
nach einer Saison ab und unterschrieb
in Zürich stattDavos. Es gehörte zu sei-
nen schwersten Gesprächen,diesen Ent-
scheidseinem Förderer Del Curto mit-
zuteilen. Die erste Saison in Zürich war
entsprechend enttäuschend. «Die Er-
wartungen an ihn», sagt Peter Zahner,
«waren riesig. Manchmal sass er fast ein
wenig verloren in der Kabine.Ab der
zweiten Saison war er dann wie verwan-
delt und spielte grossartig.»

Nur zu gerne hätten die ZSC Lions
Ambühl als einen der Ihren aufgenom-
men – wie zuvor Mathias Seger oder
Mark Streit,ehe er sein Glück in der
NHL suchte und fand. Doch imFall von
Ambühl war immer klar, dass er früher
oder später zumHCD zurückkehren
würde.Wenn er die Karriere einst be-
endet hat, wird seine Nummer 10 unter
das Hallendach gezogen und nicht mehr
vergeben werden.Er wird sich einreihen
unter dieDavoser Eishockeylegenden
wie BibiTorriani, die Cattini- und die
Soguel-Brüder, Reto undJan von Arx.
Doch noch ist Ambühls Karriere
nicht beendet. SeinVertrag läuft bis


  1. Und er schliesst nicht aus, dass
    er danach einen weiteren unterschrei-
    ben wird. «Ich bin mir bewusst, dass ich
    dem Ende meiner Karriere näher stehe
    als dem Anfang.Doch ich geniesse es
    immer noch, auf dem Eis zu stehen, und
    ich will weiterspielen.»
    AmbühlsFunktion im HCD hat sich
    grundlegend verändert.Aus dem jun-
    gen Aussenseiter, der in eine verschwo-
    rene Gruppe hineinkam, ist der Mittel-
    punkt desTeams geworden.Ambühl ist
    das Vorbild, an demsich dievielen jun-
    gen Spieler orientieren, die dem HCD
    dereinst den nächstenTitel bringen sol-
    len. Er ist der wichtigste Spieler desTrai-
    ners ChristianWohlwend und des Sport-
    chefsRaeto Raffainer, und er führt das
    Team, wie er es immer gemacht hat:
    durchTaten stattWorte.
    Raffainer ist nur einJahr älter als
    Ambühl. Zusammen waren sie mit den
    Davoser Junioren einst Nachwuchs-
    meister geworden. Er sagt: «Ichkenne
    wenigeSpiel er, die einTeam besser


spüren als er.Ambühl spricht nicht viel.
Doch wenn man ihn nach seinerMei-
nung fragt, erhält man ein verlässliches
Bild aus dem Innern.»
Ambühl lebt Eishockey. In derFrei-
zeit verfolgt er Spiele aus der russischen
KHL oder der schwedischen Liga. Es
gibt kaum einen europäischenTopspie-
ler, den er nichtkennt und charakterisie-
ren kann.Als sichRaffainer imFrühjahr
während derWeltmeisterschaft daran-
machte, den Schweden MattiasTedenby
zu verpflichten,sagte ihmAmbühl:«Hol
den unbedingt. Ich habe Arno bereits
vor zweiJahren gesagt, der würde gut in
unserTeam passen.»
Ambühl bewahrte sich diese Leiden-
schaft für das Eishockey auch in der
vergangenen Saison, als vieles schief-
lief. Sein Verhältnis zu Arno Del Curto,
den er einstals seinen «Hockey- Vater»
bezeichnet hatte, nahm Schaden. Der
Coach wollte ihn zumVerteidiger um-
funktionieren, und Ambühl tat sich äus-
serst schwer mit diesemRollenwechsel.
Als einer der Ersten erkannte Am-
bühl,dass es nach 22Jahren mit Del
Curto wohl nicht mehr weitergehen
konnte. Doch er ist viel zu loyal, um
heute ein kritischesWort über seinen
langjährigenFörderer zu verlieren.«Das
Ende», sagt er, «mag nicht super gewe-
sen sein.Doch imKopf bleiben die sechs
Meistertitel, die der HCD mit Arno ge-
wonnen hat. Die letzteSaison war nicht
einfach. Doch sie hat mich auch daran
erinnert, wie privilegiert ich bin.Ich
habe jahrelang immer um denTitel mit-
gespielt. Man vergisst dann schnell,dass
das nicht selbstverständlich ist.»

Er ist er,auchnachzweiJahrzehnten in der Scheinwelt des Spitzensports: der HCD-Captain Andres Ambühl. PETER KLAUNZER/ KEYSTONE

Ambühl lebt Eis-
hockey. Es gibt kaum
einen europäischen
Spieler, den er nicht
kennt und charakteri-
sieren kann.
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