Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

46 WOCHENENDE Freitag, 18. Oktober 2019


Der Banker,

der zu viel Schub gab

Wie wurde Pierin Vincenz zu dem, der er ist? Ein Porträt des


früherenRaiffeisen- Chefs, der noch immer auf eine Anklage wartet.


VON ZOÉ BACHES, ERMES GALLAROTTI UNDMARTIN BEGLINGER (TEXT)


UND PASCAL WALLIMANN(ILLUSTRATIONEN)


«DieLandung ist brutal, undMitleid
kann mankeines erwarten. Es ist schön,
wenn einem dieLeutean der Olma sa-
gen, dass man es gut macht und erfolg-
reich ist. Doch einFehlerreicht, und du
gehst nicht mehr an die Olma.Das wäre
dann die Arschlochzulage. Man weiss es,
und doch muss man es erleben, um es
wirklich zu wissen. Umso besser muss
man aufpassen, dass nicht irgendwo ein
Riesenmist passiert.»
Diese Sätze klingen fast so, als hätte
PierinVincenz seine Zukunft erahnt.
Er gab sie Anfang 2013 im «Magazin»
des«Tages-Anzeigers» zu Protokoll – zu
einer Zeit, als alles bestens fürVincenz
zu laufen schien undkein Mensch sich
vorstellenkonnte, dass fünfJahre spä-
ter diePolizei vor seiner Haustüre im
ausserrhodischen Niederteufenstehen,
seineVilla durchsuchen und ihn hinter-
her abführen würde. ImJahr 2013 galt
PierinVincenz noch weitherum als jener
Mann, derRaiffeisen – dieses früher so
gerne belächelte «Bauernbänklein»–
zur drittgrössten Bankengruppe der
Schweiz hochgestemmt hatte, gleich hin-
ter den beiden Grossbanken. «Ich habe
Schub gegeben, brutal Schub», pflegte er
gerne über seine 17 Ja hre als Chef von
Raiffeisen Schweiz zu sagen.
Im März 2016, auf seinen 60. Ge-
burtstag hin, trat PierinVincenz plan-
mässig alsCEO ab. Es gabviel Applaus
von fast allen Seiten,Wirtschaftsminis-
terJohann Schneider-Ammann schrieb
dasVorwort in der offiziellenFest-
schrift «Dr. PierinVincenz – Bergler
und politischerBanker», und er selber
produzierte sich an seinem Abschieds-
festin der Lokremise St. Gallen als
«table dancer».

EingerollteTausendernoten


Doch die Zeiten der unbeschwertenAuf-
tritte sind vorbei, als er mit eingerollten
Tausendernoten an einem Messestand
derOlma oder, später am Abend, in einer
Bar in der Stadt aufkreuzte und demons-
trativRunde umRunde spendierte. Seit
dem 27. Februar 2018, als er wegen an-
geblich ungetreuer Geschäftsführung in
Untersuchungshaft genommen wurde
und die nächsten 106Tageineiner Ein-
zelzelle auf dem Zürcher Kasernenareal
absitzen musste, seit jenemTag weiss er
nur zu gut, wie sich der Absturz eines
Bankers anfühlt. «Was ich in den letz-
tenWochen erlebt habe, wünsche ich nie-
mandem», liess er in einem kurzen Com-
muniqué verlauten. Zugleich bestritt er
sämtlicheVorwürfe, dann tauchte erab
und schweigt seither genauso beharrlich
wie sein prominenter Anwalt, der Zür-
cher Strafverteidiger Lorenz Erni.
Derweil wartet man allseits auf eine
Anklage. Sie soll, so wird vermutet,im
Laufe des ersten Halbjahres 2020kom-
men. Die Zürcher Bezirksanwaltschaft
steht nach der unüblich langen U-Haft
unter grossem Druck und muss liefern,
weil die Delikte, die sieVincenz vor-
wirft, ab 2022 zu verjähren beginnen.
Operativ ist die Gruppe zwar bis
heute unverändert erfolgreich, doch
dieVerhaftung ihrer früheren Galions-
figur hatRaiffeisen gleichwohl schwer
erschüttert, vor allem die Zentrale in
St. Gallen.Inzwischensind diegesamte
Bankleitung und fast der gesamteVer-
waltungsrat ausgetauscht worden.Die
neuen Verantwortlichen haben, mit
einerAusnahme, alle Beteiligungen aus
der Sturm-und-Drang-ÄraVincenz wie-
der abgestossen und besinnen sich auf
ihre genossenschaftlichenWurzeln zu-
rück, während man sich in der Öffent-

lichkeit weiterhin fragt, wie es eigent-
lich zu diesem Debakelkommenkonnte.
Wer ist dieser PierinVincenz wirk-
lich? In welchem Umfeld war eine sol-
che Karriere überhaupt möglich? Und
warumkonnte er so ungehindert agie-
ren? Die NZZ hat darüber mit mehr als
zweiDutzendWeggefährten und Beob-
achtern gesprochen. DerAufstieg und
Fall des PierinVincenz wirft zugleichein
Schlaglicht auf dieFinanzbranche vor
und nach ihrer grossen Krise von 2008.

Die Sturm-und-Drang-Phase


PierinVincenz,1956 geboren, hat sich
immer gernealsBündner Bergbub ver-
kauft, wohlwissend, dass einrätoromani-
sches 300-Seelen-Dorf wie Andiast per-
fekt zum Dorfbanken-Image vonRaiff-
eisen passt. Zwar stammen seine Eltern
aus Andiast, und er ist oft dort in den
Ferien, doch hauptsächlich wächst er mit
seinen drei älteren Schwestern in einem
gutbürgerlichen Quartier in Chur auf.
Seine Mutter stammte aus wohlhaben-
denVerhältnissen, derVater war Chef
des Bündner DetailhändlersVolg, Prä-
sident des kantonalenBauernverban-
des und wurde1971 CVP-Ständerat.
Vincenz schildert seineJugend als aus-
serordentlich glücklich, er geniesst viele
Freiheiten, mit demVater geht er oft in
die Alpen. Mit zwölfJahren schicken ihn
die Eltern nach Disentis, doch dasKor-
sett der Klosterschule behagt dem quir-
ligen Pierin überhaupt nicht. Mit sei-
nenFreunden kann er es bestens, mit
denPatres weniger. Errebelliert, muss
repetieren und fliegt später ganz von
der Schule, weiler lieber festet,Fussball
spielt und Ski fährt. Die Maturaschafft
er später an der Kantonsschule Chur,
aber alsJusstudent an der Universität
Zürich scheitert er von neuem.
Zugleich muss der jungeVincenz mit-
erleben, wie seinVater alsPolitiker strau-
chelt. Die bekannte BündnerPersön-
lichkeit gerät Ende der siebzigerJahre
öffentlich schwer unter Druck, weil er
sich bei privaten Geschäften bereichert
haben soll. Eine von der CVP initiierte
parteiinterne Untersuchung entlastet
ihn zwar vollständig. Kurz darauf wer-
den nun aber weitereVorwürfe rund um
nicht deklarierte Einnahmen laut. Letzt-
lich bleibt auch hier unklar, ob die An-
schuldigungenkorrekt sind oder obGion
ClauVincenz Opfer einer politischen
Intrige geworden ist. Sicher ist, dass seine
politische Karriere damit beendet ist.
Der Sohn kriegt dieKurve schliess-
lich doch und beginnt, deutlich ruhiger

geworden, mit 26Jahren ein Betriebs-
wirtschaftsstudium an der Hochschule
St. Gallen. Dieses nimmt er sehr ernst,
sein Ehrgeiz ist geweckt. Hier lernt er
neben anderenPeter Spuhlerkennen
und schätzen, den nachmaligen Chef von
StadlerRail.Auch später wirdVincenz
gern Bekanntschaften pflegen mit Men-
schen, die als Unternehmer erfolgreich
sind. An der Universität trifft er zudem
Patrik Gisel, der ihn beim Schreiben sei-
ner Doktorarbeit unterstützt haben soll
und den er später zuRaiffeisen holt.

Miefige Dreisternhotels


Nach Abschluss der Doktorarbeit im
Jahr1990 zieht esVincenz an dieFront.
Er heuert beim SchweizerischenBank-
verein an und geht für zweiJahre nach
Chicago,wo er für O’Connor arbeitet,
die amerikanische Derivateboutique im
Besitz der Schweizer Grossbank. Jeder
dritteBankerdort ist Mathematiker,
undVincenz bekommt hautnah mit, wie
jene Instrumente entwickelt werden,
die sich in derFinanzkrise von 2008 als
«Massenvernichtungswaffen» (Warren
Buffett) erweisen werden.Dann zieht
es ihn auf dieKundenseite, in die In-
dustrie. Er wirdFinanzchef von Hun-
ter Douglas, einem international füh-
rendenFabrikanten vonFensterstoren.
Vincenz verbringt die halbe Zeit mit
Kundenbesuchen auf amerikanischen
Flughäfen und in miefigen Dreisterne-
hotels. Es ist nicht das Leben, das er
sich vorstellt – und wohl ebenso wenig
seine Ehefrau, mit der er Zwillinge hat,
die er aber nie sieht, weil er dauernd im
Ausland ist. Deshalb sucht er eine neue
Arbeit in der Schweiz.
Nun kommt Raiffeisen ins Spiel.
Gion ClauVincenz ist nach seinem
Rücktrittals CVP-Ständerat1984 als
Verwaltungsratspräsident von Raiff-
eisen Schweiz gewählt worden und
bleibt bis1992 im Amt.1996 wird sein
SohnFinanzchef derRaiffeisengruppe.
Mit diesemWechsel in einekomplett
neue Kultur, zur «Wurst-und-Brot-
Bank» in St. Gallen, wie sichVincenz
einmal ausdrückt, «haben Sie jetzt die
Nummer 2 auf demRücken», sagt ihm
ein Headhunter. DochVincenz sieht es
anders: «BeiRaiffeisen habe ich viel
mehr Gestaltungsmöglichkeiten als bei
einer Grossbank.» Zunächst belegt er
einen Benimmkurs, um die Kleider- und
Tischsitten in der Schweizer KMU-Welt
zu beherrschen, dann gibt er «Schub».

Die Ablösung von FelixWalker


Als PierinVincenz denPosten des
Finanzchefs übernimmt, ist die1899 im
ThurgauerBauerndorf Bichelseege-
gründeteRaiffeisen bereits nicht mehr
jener loseVerbund vonFeld-Wald-und-
Wiesen-Banken – stark katholischge-
prägt und getreu nach dem genossen-
schaftlichen Leitsatz «Geld aus dem
Dorf für das Dorf» geführt. Schon der
damalige ChefFelixWalker treibt seit
1980 energisch die Modernisierung der
Bankengruppe voran. Unter seiner
Ägide werden über 600Raiffeisenban-
ken fusioniert, von 1200 imJahr 1980
sind1999 noch 582Raiffeisenbanken
übrig. Eigenständig sollen fortan nur
Banken mit mindestens 20 Millionen
Franken Bilanzsumme bleiben.Für
viele «Raiffeisler» sind eskeine glück-
lichenJahre.Der Druck der St. Gal-
ler Zentrale ist gross, manche – nota-
bene nebenamtliche –Bankleiter wer-
den zuFusionen gezwungen, oft gegen
ihrenWillen. DieseTour deForce ist

Der Aufstieg und Fall


des Pierin Vinc enz wirft


zugleich ein Schlaglicht


auf die Finanzbran che


vor und nach ihrer


grossen Krise von 2008.


nur möglich, weil bereitsFelixWalker
über eine sehr starkeStellung verfügt.
In der Geschäftsleitung hat erkeine
Opposition. Mit seinem neuenFinanz-
chef arbeitet er bestens zusammen, die-
ser bringt zudem viele neue Geschäfts-
ideen ein. AuchWalker will diversifi-
zieren und sich aus der grossen Abhän-
gigkeit vom Kreditgeschäft und damit
von den Zinserträgen befreien.Raiff-
eisen vergibt vornehmlich Hypothe-
karkrediteanPrivatkunden und KMU
underwirtschaftet Ende der neunziger
Jahre rund dreiViertel ihrer Einnah-
men im Zinsgeschäft.
DochVincenz will mehr. «DieseBank
sollten wir übernehmen», hört man ihn
schon damals öfters sagen. Aber noch ist
es nicht so weit. Noch ist er nicht Chef.
Seine Ernennung zumVorsitzenden der
Geschäftsleitung erfolgt1999 nach er-
folgreicher Tätigkeit alsFinanzchef und
nachdem er die üblichen Assessments
mit Bravour bestanden hat. Der Um-
stand, dass seinVater früher Präsident
war, sollte ihm nicht zum Nachteil gerei-
chen, davon ist dieBankführung über-
zeugt.Walker wiederum wird nach sei-
nemRücktritt St. Galler CVP-Natio-
nalrat und verstärkt die ohnehin schon
beachtliche, rund zehnköpfige «Raiff-
eisen-Fraktion» im Bundeshaus.
Vincenz’ Start als Chef wird von
einer privatenTr agödie überschattet.
Völlig überraschend stirbt seine Ehe-
frau, und er steht über Nacht alleine mit
seinen beiden siebenjährigenTöchtern
da. Diese Zeit habe er nur dank familiä-

rer Unterstützung und dem Entgegen-
kommen seines Arbeitgebers überstan-
den, erzählt er später. Und er wird des-
halb beiRaiffeisen stets Kinderkrippen
und familienfreundlicheTeilzeitmodelle
fördern. Gerade bei denFrauen, ob Mit-
arbeiterinnenoderGenossenschafterin-
nen, trägt ihm das vieleSympathien ein.
In seinem neuenJob ist PierinVin-
cenz eigentlichkeinBankchef. Er amtet
viel eher als Direktor einer Dienstleis-
tungszentrale in St. Gallen, die für ihre
Eigentümer – die damals rund 580 loka-
lenRaiffeisenbanken – gruppenweite
Leistungen erbringt. Sie ist für das Mar-
keting zuständig, gibt Support in IT-Fra-
gen, kümmert sich um das Management
von Risiken undFinanzen und nimmt
gruppenintern dieFunktion einer Zen-
tralbank wahr. Aber dem früheren
Investmentbanker Vincenz ist eine Kar-
riere als oberster Stabschef desRaiff-
eisen-Verbunds zu wenig. Er will aus
dem Sammelsurium selbständigerRaiff-
eisenbanken verstärkt die dritte Kraft
imLand schmieden, die sie gemessen
an der Bilanzsumme bereitsseit länge-
rem ist –soetwas wie eine dritteGross-
bank neben UBS und Credit Suisse. Zu
Hilfekommt ihm der Umstand, dass die
St. Galler Zentrale auch für die strategi-
scheWeiterentwicklung der Gruppe zu-
st ändig ist. Der Machtmensch und be-
gnadeteTaktikerVincenz weiss diese
Chance zu nutzen.
Es sind auchKonstruktionsfehler in
derRaiffeisen-Governance, die seine
Stellungstärken. Der gewichtigste:Weil
Free download pdf