Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

54 FORSCHUNG UND TECHNIK Freitag, 18. Oktober 2019


Wenn die Natur eigene Rechte bekommt


In Ecuadorhaben Bürger die Rechte eines Fl usses vor Ge richt durchgesetzt.


Dochwas nützt das? VON ULRIKE PRINZ


DieWaldbrände im Amazonasgebiet
gehen zurück.Noch imAugust zeig-
ten Satellitenaufnahmen der Nasa über
86000 Brände in Brasilien,Paraguay,
Peru,Kolumbien und Bolivien. Allein
in Brasilien stieg derRegenwaldverlust
laut Berichten von 723 km² imVorjahr
auf 2092 km². DieFeuer haben aufge-
rüttelt und gezeigt, wie wichtig ein wirk-
samerer Schutz für das wichtigste Öko-
system der Erde wäre. Ein neuer Ansatz
dafür ist die Anerkennung derRechte
der Natur, wie sie verschiedeneLän-
der derRegion tatsächlich bereits fest-
geschrieben haben.


Pacha Mama


Ecuador ging voran. 2008 nahm es die
Natur alsRechtssubjekt in seineVer-
fassung auf und erkannte den indiani-
schenAusdruck «Pacha Mama» (Mut-
ter Erde) alsSynonym für die Natur
an. «Pacha Mama, in der sich das Le-
ben verwirklicht und realisiert, hat
dasRecht, in ihrer gesamten Existenz
respektiert zu werden», heisst es in
Artikel72 der ecuadorianischenVe r-
fassung.Und: «JedePerson, jede Ge-
meinschaft, jedesVolk oder jede Natio-
nalität kanndie zuständige öffentliche
Autorität dazu auffordern, dieRechte
der Natur umzusetzen.»
Zum ersten Mal angewendet wur-
den die neuen Gesetze, als vor achtJah-
ren der FlussVilcabamba durch Stras-
senbau bedroht war. Er sei eine natür-
licheRessource, die geschützt werden
müsse, argumentierten damals die Bür-
ger in ihrer Klage:Würde sein Zustand
beeinträchtigt, so beträfe das gleicher-


massen ihr Menschenrecht auf eine ge-
sunde Umwelt. Sie bekamenrecht, und
dem Fluss wurde dasRecht zugespro-
chen, seinem natürlichenLauf zufol-
gen.Viel passiert ist deswegen noch
nicht. DieRechte der Natur stehen
zwar in derVerfassung, was eine wich-
tige Grundlage ist, müssen aber poli-
tisch durchgesetzt werden. Genau wie
die Menschenrechte müssten auch
dieseRechte erstritten werden,resü-
miert AlbertoAcosta, der ehemalige
Präsident der verfassunggebendenVer-
sammlung Ecuadors.
Ähnlich ist dieLage unter anderem
auch in Bolivien:Das Landverankerte
2010 und 2012 zwei Gesetze in seiner
Verfassung, indenen Schutz und Erhalt
der Umwelt als «öffentliches Interes-
se»festgeschrieben werden,ebenso wie
dasRecht der Bevölkerung,in einer
«gesunden und ökologisch ausgegliche-
nen Umwelt» zu leben. Doch was nüt-
zen dieRechte der Natur, wenn Men-
schen imRegenwaldFeuer legen?Drei
Wochen liess Boliviens Präsident ver-
streichen, bis er internationale Hilfe zur
Löschung der Brände in der Chiquita-
nía annahm.

Erdzentriertes Recht


Was bedeutet es also, wennLandschaf-
ten, Flüsse oder Berge vor Gericht ste-
henkönnen, es aberkeine direkten
Vorteile bringt? Bisher war subjekti-
vesRecht Menschen, Organisationen
oder ökonomischen Akteurenvorbe-
halten, die Natur und was sie ausmacht,
galten als Sache. Dasschlagesich auch
in den Umweltschutzgesetzen nieder,

erläutert derRechtsethikerJensKers-
ten von der Universität München: «Sie
regeln, wie vielUmweltverschmutzung
oder Naturzerstörung in Kauf genom-
men wird, und legalisieren dadurch Um-
weltschäden.» Sobald man jedoch der
Natur–Tieren, Pflanzen,Landschaften
oder auch abstrakteren Umweltgütern
wieWasser oder Luft –Rechte zuge-
stehe, könnten Umweltverbände, Nicht-
regierungsorganisationen oder Anwalts-
kanzleien vor Gericht ziehen und diese
Rechte einklagen. Das eröffnet neue
juristische Strategien, der Umweltzer-
störungEinhaltzugebieten.
Beim Schutz vonTieren verfolgt man
eine ähnliche Strategie. Doch während

man hier wie imFall der grossen Men-
schenaffen mit hohen genetischen Über-
einstimmungen mit dem Menschen oder
bei höherenWirbeltieren mit der Emp-
athiefähigkeit argumentiert–also wie-
der mit der Nähe zum Menschen –,setzt
di eAnerkennung derRechte der Natur
an einem anderen Punktan.Hiergeht
es um eine neue Beziehung von Mensch
und Natur. Der Schritt zur Anerken-
nung vonRechten für nichtlebende Sub-
jekte – seien es Flüsse, derWald oder ein
Gletscher – bedeutet gleichzeitig einen
Schritt weg vom anthropozentrischen
Weltbild,in dem der Mensch im Zen-
trum steht und die Natur als Gegen-
stück zurKultur begreift.Dabei spielen,
in der bolivianischen wie auch in der
ecuadorianischenVerfassung,ganzheit-
liche indigeneKosmovisionen von «Pa-
cha Mama» eine wichtigeRolle. Sie ver-
stehen den Menschen alsTeil der beleb-
ten Natur, der Mutter Erde.
Deren Rechte gewinnen offenbar
trotz allenWiderständen an Gewicht:
Die Zahl der Entscheidungen undVer-
ordnungen, die durch die Naturrechte
inspiriert sind, steige deutlichan, sagt
Craig Kauffman,Politikwissenschafter
an der University of Oregon und Ex-
perte für erdzentriertesRecht.InUno-
Resolutionen gewinnen sie zunehmend
an Akzeptanz. «Naturrechte werden im
Rahmen derVerhandlungen über den
Klimawandel und dieKonvention über
die biologischeVielfalt diskutiert und
dieWeltnaturschutzunion IUCN, die
grösste und älteste internationale Um-
weltorganisation derWelt, hat ihre Mit-
glieder zur Umsetzung von Naturrech-
ten verpflichtet.»

HAUPTSACHE, GESUND


Dickicht


des Schwei gens


Von Nicola von Lutterotti


Selten hinterlassen wissenschaftliche
Erkenntnisse bei mir einen solchen
Nachhall wie das folgende,auf den ers-
ten Blick wenig spektakuläreResultat
einer kleinen Studie:Frauen, die ihre
negativen Emotionen beständig unter-
drücken, weisen demnachauffallend oft
schwere atherosklerotische Ablagerun-
gen in der Halsschlagader – ein Nähr-
boden für Schlaganfälle – auf.
Diese Beobachtung, die erst auf
einem Kongress vorgetragen wurde,
rief bei mir die Erinnerung an ein tra-
gisches Schicksal wach. Eine entfernte
Bekannte, Mutter von drei Mädchen im
Teenager-Alter, wareines Morgens nicht
zumFrühstück erschienen.Dadies un-
gewöhnlich für dieFünfzigjährige war,
wurde dieFamilie unruhig – zuRecht,
wie sich herausstellen sollte. Zu jenem
Zeitpunkt lag dieVermisste bereitsleb-
los in ihren Kissen. Ihr waren, das zeigte
eine spätere Obduktion,ausgeprägte
atherosklerotische Plaques in der Hals-
schlagader zumVerhängnis geworden.
Wie in solchen Situationen üblich,
trieb die Ursachenforschung wilde Blü-
ten. So gaben sichFreunde, Bekannte
und Nachbarn überzeugt, dassdie Kin-
der denTod der Mutter mitverursacht
hätten. Denn sie hätten dieser zu viel
Arbeit aufgebürdet.Dass berufstätige
Mütter Multitasking-Talente sein müs-
sen, um im Alltag zu bestehen,steht
zwar ausserFrage. Nur eine Minder-
heit von ihnen scheidet aber vorzeitig
aus dem Leben. Sonst läge die Lebens-
erwartung des weiblichen Geschlechts
nicht bei mehr als 80Jahren.
Sehr viel belastender als ihre Dop-
pelrolle als berufstätigeFrau und Mut-
ter dürfte etwasganz anderes gewesen
sein:Wie mir eineFreundin einige Zeit
nach dem tragischen Ereignis erzählte,
hat sich der EhemannderVerstorbenen
offenbar jahrelang an den heranwach-
sendenTöchternvergangen. Das habe
ihr eines der drei Mädchen anvertraut.
Dass die Mutter von denVorgängen inV
den Kinderzimmern nichts wusste oder
ahnte, hielt sie für ausgeschlossen. Denn
laut derTochter hat es viele Indizien für
das schändlicheVerhalten desVaters ge-
geben. Sehr viel wahrscheinlicher ist es
daher, dass die Mutter aus Scham oder
Angst vor Stigmatisierung derWahr-
heit nicht insAuge blicken wollte.Das
Schweigen erschien ihr möglicherweise
weniger qualvoll als die Alternative: die
Töchter zu exponieren und den Mann
blosszustellen – mit derFolge, dass er
strafrechtlich belangt wird.
Vorfälle wie dieser sind alles andere
als selten. Nur ein Bruchteil davon ge-
langt allerdings an die Öffentlichkeit.
Fast undurchdringbar ist das Dickicht
des Schweigens meist, wennes sichbeim
Täter um den eigenenVater handelt.
Solche Übergriffe sind zugleich beson-
ders perfide. Denn sie hinterlassen beim
Opfer ein tiefes Gefühl von Hilflosigkeit
undAusgeliefertsein. Umso wichtiger
erscheint es, früheWarnzeichen ernst
zu nehmen.Das gilt insbesondere auch
für die grosse Zahl der potenziellen
Täter. Laut Untersuchungen sollen bis
zu fünf Prozent der Männer pädophile
Neigungen haben,sichalso zu Kindern
im vorpubertären Alter sexuell hingezo-
gen fühlen.Viele der Betroffenen leiden
selber unter dieser sexuellen Präferenz


  • wie sehr, zeigt sich am grossen Zulauf
    eines Hilfsangebots in Deutschland: Im
    Jahr 2005 an der Berliner Charité be-
    gonnen, ist das ehemalige Pilotprojekt
    «Kein Täter werden» heute in fast allen
    Bundesländern etabliert.


DemFluss Vilcabamba in Ecuadorwurde 2011 dasRechtzugesprochen, seinem natürlichen Lauf zu folgen. JOHN LAUNOIS / GETTY


Die Anerkennung


von Rechten von Flüssen


oder Wäldernbedeutet


auch einen Schritt weg


vom anthropozentrischen


Weltbild.

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