Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

Freitag, 18. Oktober 2019 FORSCHUNGUND TECHNIK55


«So etwas wie Gehirnwäsche gibt es nicht»

Amokläufe mit extremistischem Hintergrund ereignensichinerschreckender Regelmässigkeit. Wer tut so etwas,


und wielassensichAttentate verhindern? Der forensischePsychologeJérômeEndrass imGespräch mit AlanNiederer.


Herr Endrass, Sie kennen den mensch-
lichen Abgrund wiewenige.Was lösen
Terroranschläge wie der jüngste in
Halle, bei dem ein rechtsradikaler Mann
zwei Menschen erschoss, bei Ihnen aus?
Sorgen undVerunsicherung, wie bei
allen Bürgern. Das ist auch das Ziel der
Attentäter.Wenn es einen Unterschied
gibt zwischen Profis und derAllgemein-
bevölkerung, dann der, dass ich als Ex-
perte vielleicht etwas empfindsamer bin.


Wie kommt das?
Ich war unmittelbar nach dem Attentat
vom 11.September 2001 in NewYork
als Notfallpsychologe vor Ort. Die Bil-
der, die ich damals gesehen habe, kom-
men mir sofort wieder in den Sinn,wenn
ich von einem neuen Attentat höre.


Hallesteht nicht isoliert da.Als Laie hat
man den Eindruck,Terroranschläge und
Amokläufe mit extremistischem Hinter-
grund hätten in den letztenJahren zu-
genommen.
Dafür liefern die Statistiken keine objek-
tivenAnhaltspunkte.Wenn wir dennoch
das Gefühl haben,Terroranschläge näh-
men zu, dann hängt das sicher auch mit
der Berichterstattung zusammen.Die ist
heute intensiver und schneller als früher.


Viele sagen, der Mensch sei noch nie so
wenig gewalttätig gewesen wie heute.
DieseThese von Steven Pinker ist in
meinenAugen gut untermauert.Gleich-
zeitig hat auch die Gewalttoleranz mas-
siv abgenommen. Stellen Sie sich vor:
Vor zwanzigJahren warVergewaltigung
in der Ehe noch straffrei.Das kann man
sich heute nicht mehr vorstellen.


Attentäter wie jener von Halle sind in
den Augen von LaienBestien, Psycho-
pathen, Monster.Wie sehen Sie das?
Extremistische Attentate sind ein sehr
heterogenes Phänomen.Da ist alles ver-
treten an Motiven. Und was die Sache
nochkomplexer macht: Es gibtregel-
rechte Modeströmungen.


Was ist jetzt gerade Mode?
Das kommt auf dieRegion an.In Is rael
beispielsweise gibt es eine Entwicklung


Richtung Lowtech-Terrorismus. Das
fing mit ersten Amokläufern an, die
nur mit Messern bewaffnet aufPolizis-
ten oder Soldaten losgingen. Extremis-
tische Organisationen haben dannreali-
siert, dass sich damit auch terroristische
Attentate durchführen lassen. Und das
mit geringemAufwand. Um einenkon-
ventionellen Selbstmordattentäter mit
Bombe an sein Ziel zu bringen, braucht
es 18 bis 20 Unterstützer.

Viele Amokläufer, die eine Schule stür-
men, sollen eine psychotische Störung
haben.Dagegen scheinen terroristische
Selbstmordattentäter meist psychisch ge-
sundzu sein.Wie ist das zu erklären?
Bei den untersuchten Schul-Attentätern
in Deutschland gab es zwar gegenüber
der Normalbevölkerung eine leicht er-
höhteRate an Psychosen. Die Mehrheit
der Täter war aber unauffällig.Auch
sonst war die Gruppe sehr heterogen.Es
gab Leute, die ihreTat vierJahre lang
geplant hatten. Bei anderen dauerte die
Vorbereitung weniger als eineWoche.

Im Film «Das Schweigen der Lämmer»
spielt Anthony Hopkins den Proto-
typ des narzisstischen und sadistischen,
aber hochintelligenten Massenmörders.
Wie intelligent sindTerroristen?
Sichernicht so intelligent wie der Prot-
agonist in demFilm. Die meisten dürf-
ten auchkeine narzisstische oder sadis-
tischePersönlichkeitsstörung haben.Mit
Sicherheit haben aber Personen,die völ-
lig freiwillig und mit dem festen Ziel,
Selbstmordattentäter zu werden, von
Europa in den Nahen Ostenreisen,eine
auffälligePersönlichkeit.

Die meisten schweren Gewaltverbre-
chen werden von Männern verübt. Ist
das nur demTestosteron geschuldet?
Ein Kollege von mir sagte einmal:Das
Gefährlichste, was die Evolution her-
vorgebracht hat,sind jungeMänner.
Das zeigt sich auch bei denPersonen,
die nachSyrien ausreisten, um für den
Islamischen Staat zu kämpfen.Die aller-
meisten waren junge Männer zwischen
16 und 24Jahren.Das muss uns zu den-
ken geben – auch für die Prävention.

Was meinen Sie damit?
Junge Attentäter haben ein sehr hohes
Gewaltpotenzial. Die Ideologie dürfte
bei ihnenkeine grosseRolle spielen.

Undwenn jemand einer Gehirnwäsche
unterzogen wurde?
Die einzige Gehirnwäsche führt der
Pathologe durch, nachdem er beimVer-
storbenen das Gehirn aus dem Schädel
genommen hat. Die Idee von der psy-
chologischen Gehirnwäsche stammt
aus einemThriller. In derRealität gibt
es das nicht.Junge Menschen mit hoher
Gewaltdisposition suchen sich vielmehr
eine Ideologie aus, mit der sie ihre Ge-
walt legitimierenkönnen.

Seit Jahrhunderten debattieren Philoso-
phen darüber, ob der Mensch von Natur
aus gut oder schlecht ist.Was denken
Sie?
Ich spreche lieber von Disposition.
Wir alle befinden uns in einemKonti-
nuum zwischen prosozialem und anti-
so zialemVerhalten.Wenn die Gesell-
schaft gut funktioniert, werden sich die
meistenMenschenprosozial verhalten.
Es gibt aber eine kleinere Gruppe, die
sich immer antisozial verhält. Bei ihnen
dürfte eine genetische Disposition vor-
liegt, die ihrVerhalten stark lenkt.

Was kann hier Erziehungausrichten?
Es gibt eine berühmte Studie zur Gen-
Umwelt-Interaktion. Sie hat gezeigt,
dass beiPersonen, die ungünstige Gene
haben und in der Kindheit traumatisiert
wurden,das Risiko massiv erhöht ist,ge-
walttätig zu werden. DieKombination
dieserFaktoren ist also dieRezeptur für
Gewaltdelikte.GenetischeVerletzlich-

keit undTrauma alleine hatten dagegen
keinen grossen Effekt auf dasVerhalten.

Es gibt einen angeborenen Moral-
instinkt.Wenn wir töten,müssen wir also
eine natürliche Hemmschwelle überwin-
den. Wie gelingt das?
Von Kindersoldaten wissen wir, dass die
Hemmschwelle bei der erstenTötung
meist sehr hochist. Die zweiteTötung
wird schon als viel weniger schlimm er-
lebt.Und nach der dritten kann sich eine
Faszination fürsTöten entwickeln.Das
sehen wir bei Männern undFrauen.

Empathie soll als Schutzfaktor wirken.
Nach dem Motto:Wer sich in andere
Menschen hineinversetzten kann, wird
nicht zum Gewalttäter. Ist es so einfach?
Der Begriff Empathie wird leider sehr
unscharf und meist im Sinn von Mitge-
fühl verwendet. Empathie ist aber ein
sozial-kognitiver Prozess, der es mir er-
laubt, diePerspektive eines andern ein-
zunehmen.Wenn mir dabei dieVor-
stellung Spass macht,dass der andere
Schmerzen empfindet, dann kann ich
empathisch sein und doch zum Schluss
kommen, ein Attentat auszuüben.

Das klingt nach Sadismus.
Sadismus kann eineRolle spielen. Der
Attentäter kann sich aber auch in sei-
nen Gegner hineinversetzten, um ihn an
seiner verwundbarsten Stelle zu treffen.
In diesemFall ist die Empathie strate-
gisch motiviert.

Bei religiösen Amokläufern findet vor
der Tat eine Radikalisierung statt. Ist das
bei politischenTerroristen ähnlich?
Fast alle Menschen brauchen eine Legi-
timierung, um Gewalt anzuwenden.
Wenn ichaber einehohe Gewaltdisposi-
tion habe, dann brauche ich wenig Legi-
timierung. In diesenFällen hat dieradi-
kale Ideologie mehrVorwandcharakter.

Das bedeutet doch, dass ein religiös
motivierter Attentäter je nach Umfeld
auch ein linksextremer oder rechtsextre-
mer Attentäter hättewerden können.
Es gibt dokumentierteFälle, in denen
Personen vomRechtsextremismus mehr

oder weniger nahtlos zum Salafismus
wechselten.

In denWochen vor derTat verhalten
sich viele Amokläufer auffällig, indem
sie etwa Gewaltphantasien äussern.Was
sollen Lehrer, Mits chüler und andere
Bezugspersonen in dieser Situation tun?
Sie sollen es derPolizei melden. In der
Schweiz haben wir ein sehr gutes, kan-
tonal organisiertes und schweizweit ver-
netztes Bedrohungsmanagement.

Hat man so schon Attentate verhindert?
Das istschwierig zu sagen. Aber in
einzelnenFällen, wenn jemandschon
Todeslisten führte und eineWaffe hatte,
war die Überprüfung mit nachfolgender
Inter vention sicher sinnvoll.

Viele Schul-Amokläuferwaren vor der
Tat beim Arzt oder bei einem Psycholo-
gen. Warum haben dieFachleute die er-
höhte Gewaltbereitschaft nicht erkannt?
Wenn Sie nur die klinischen Informa-
tionen haben, ist es sehr schwierig. Sie
brauchen dafür auch Informationen von
der Schule, vom Sportverein, von den
Eltern. Erst dann lässt sich das Gefähr-
dungsrisiko abschätzen. Das ist auchder
Kern unseres Bedrohungsmanagements.

In vielen Ländern hat sich die Gesell-
schaft politisch polarisiert. Kompro-
misse und Solidarität mit anderen gel-
ten vielen als Schwäche.Wie bedeutend
ist d as gesellschaftliche Klima für terro-
ristische Attentate?
Für dieAuswahl der Opfer ist es ent-
scheidend.Daskonnte man inFrank-
reich feststellen. Zuerst hat der Anti-
semitismus zugenommen, dann kam es
zu Attentaten auf jüdische Einrichtun-
gen. Auch in Halle hat sich derTäter
eineSynagoge ausgewählt undkeine
orthodoxe Kirche.Antisemitismus gras-
siert in vielenLändern.

Ist ein solches Attentat auch in der
Schweiz möglich?
Zweifellos. Dafür braucht es sehr we-
nig:Waffen und ein bisschen Ideologie.
Umso wichtiger ist jetzt der Schutz von
jüdischen Institutionen.

Ein Kriminaltechniker sichert in Hallenachdem rechtsextremistischmotivierten Anschlag auf eineSynagoge Spuren. FILIP SINGER/ EPA

Jérôme Endrass (49)
Stabschef des Zürcher
PD Amts fürJustizvollzug
Free download pdf