Handelsblatt - 22.10.2019

(Joyce) #1

Kerstin Leitel Orkney


W


ie ich Windräder finde?“,
überlegt die 58-jährige Jill
Farrier laut. „Ich habe nichts
gegen sie“, sagt sie dann,
„eigentlich finde ich sie so-
gar ganz elegant. Außerdem habe ich dort, wo
ich früher gewohnt habe, direkt auf einen Atom-
meiler geschaut. Und das ist schließlich nicht ge-
rade schön.“ Vor einigen Jahren ist die Britin auf
die Orkney-Inseln gezogen, die 16 Kilometer
nördlich von Schottlands äußerstem Festland -
zipfel liegen. Ein Atomkraftwerk ist dort weit und
breit nicht zu sehen – ganz im Gegensatz zu
Windrädern, die man sieht, wohin man blickt.
Die 70 kleinen Inseln bestehen aus grünen Hü-
geln, auf denen Schafe und Rinder grasen. 700
Windräder stehen hier, meist vereinzelt und oft
nur wenige Meter von einem der kleinen, grauen
Häuser entfernt. Es ist eine Unmenge an Energie,
die in Orkney von Wind in Strom verwandelt
wird. Die Inselgruppe ist darum zu einem Vor-
bild über die Landesgrenzen hinaus geworden.
Auch Orkney war einst auf herkömmlich pro-
duzierten Strom angewiesen, der über ein Unter-
seekabel vom schottischen Festland in die Haus-
halte der 22 000 Inselbewohner geleitet wurde.
Mittlerweile fließt der Strom andersherum. Es
könnte sogar noch mehr sein. „Wenn das Netz
überlastet ist, müssen wir Windräder abschalten,
und dann geht uns viel Geld verloren“, erklärt
Megan McNeill von der gemeinnützigen Organi-
sation „Community Energy Scotland“. Allein ein

GROSSBRITANNIEN


Wind, Wellen und


Wasserstoff


So verträumt die kleine Inselgruppe im Norden Schottlands auch wirkt:


Beim Thema Energie ist Orkney weit vorn. Windräder liefern mehr Energie


als notwendig, und der Überschuss ermöglicht innovative Projekte.


Energieverbrauch
Gesamtverbrauch 2018 in Groß-
britannien nach Energieträgern
in Mio. Tonnen Öläquivalente

Strommix
Anteil der Energieträger an der
Stromerzeugung 2018

HANDELSBLATT


Rundungsdifferenzen Quelle:
National Statistics

Großbritannien


191,
Mio. t

Gesamt:
332,
TWh

21,0 %
Wind- und
Solarenergie

Bioenergie
und Abfall

17,
22,

8,


1,6 %
Wasserkraft
10,4 %
Sonstige
Erneuerbare

5,1 %
Kohle

2,9 %
Öl

39 ,5 %
Gas
39,5 %
Kernenergie

Kern-
energie

Gas 75,


Kohle


Öl 68,


Windkraftwerk auf der Insel Eday hätte in den
vergangenen Jahren jeweils Strom für zusätzliche
250 000 Pfund produziert, der nicht in das Netz
eingespeist werden konnte. „Das ist viel Geld, das
die Gemeinde, der das Windrad gehört, gut ge-
brauchen könnte.“
Was also tun mit dem vielen Strom? Wie lässt
er sich sinnvoll einsetzen, wenn der Grundbedarf
gedeckt ist? Die Projekte auf Orkney werden von
Experten aus der ganzen Welt verfolgt. „Orkney
nutzt eine Reihe modernster Technologien, da-
runter Stromerzeugung mit Wind und Wellen so-
wie Elektrolyse, um überschüssige Energie als
Wasserstoff zu speichern“, erklärt Energieexper-
te Paul Dodds von der Universität UCL in Lon-
don. „Aber was Orkney so einzigartig macht, ist
die Kombination.“

Das Projekt
Kürzlich gab die Regierung den Startschuss für
ReFLEX (Responsive Flexibility): Ein Projekt
zum Aufbau eines virtuellen Energienetzwerks,
das Angebot und Bedarf koordinieren soll. Dazu
kombiniert es verschiedene Technologien und
Energiequellen. In den kommenden drei Jahren
sollen bis zu 500 Speicher in den Häusern der
Insel bewohner installiert werden, 100 größere
Speichereinheiten in Unternehmen und öffent-
lichen Einrichtungen, 200 Ladestationen für
600 zusätzliche Elektroautos und 100 flexible
Heizungssysteme sowie eine hochleistungsfähi-

Serie: Klimapioniere
Der Kampf gegen die globale
Erderwärmung ist eine der
wichtigsten politischen Heraus-
forderungen geworden.
Dieser Kampf ist allerdings nur
zu gewinnen, wenn wir bereit
sind, neue Wege zu gehen, und
vor allem: wenn wir internatio-
nal voneinander lernen. In der
Serie zeigt das Handelsblatt
inspirierende und ermutigende
Beispiele aus aller Welt, wie
Klimaschutz gelebt werden
kann: inspirierende Menschen,
bemerkenswerte Technologien
und ambitionierte Strategien
etwa aus China, den USA,
Frankreich oder Norwegen.

Für den zwölften und letzten
Teil der Serie „Klimapioniere“
war unsere Korrespondentin
am Nordzipfel Schottlands,
wo es einen Überschuss an
erneuerbarer Energie gibt.

120

PROZENT
seines Energiebedarfs
erzeugt Orkney.

shutterstock editorial


10 Wirtschaft & Politik DIENSTAG, 22. OKTOBER 2019, NR. 203


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