Handelsblatt - 22.10.2019

(Joyce) #1

Pierre Heumann Tel Aviv


S


eit Donnerstag ist der Liba-
non im Ausnahmezustand.
Mit Kundgebungen legen
Demonstranten die großen
Städte lahm und blockieren
die Straßen und wichtige Verkehrsver-
bindungen. Die Lage wird dadurch
verschärft, dass die Dollar-Reserven
knapp werden. Die Landeswährung
ist an den Dollar gekoppelt, und im
Alltag ist er das am meisten verbreite-
te Zahlungsmittel. Ohne Bargeld
könnte der Kollaps drohen.
Ausgelöst wurden die Massenkund-
gebungen durch einen Beschluss zu
neuen Steuern, die die Regierung er-
lassen wollte. Dazu hätte auch eine
Abgabe auf Gespräche via WhatsApp
gehört. Für die kommunikationsfreu-
digen Libanesen war das ein Alarm-
signal, zumal die Bürger seit Monaten
der Regierung zürnen und ihr vor-
werfen, sich auf Kosten der Steuer-
zahler zu bereichern.
Als zum Beispiel Mitte Oktober die
schlimmsten Waldbrände seit Jahr-
zehnten wüteten, musste die Regie-
rung zugeben, dass die Löschhub-
schrauber nicht einsatzfähig sind, weil
ihre Wartung ungenügend sei und Er-
satzteile fehlten. Richtig überrascht
hat das die Bürger allerdings nicht.
Seit Langem wissen sie, dass die Regie-
rung unfähig ist, die unzuverlässige
Stromversorgung und die holprigen
Straßen zu sanieren.
Die Zeit drängt – nicht nur, weil die
finanzielle Lage prekär ist. Mit bloß
kosmetischen Reformen wollen sich
die Bürger nicht mehr abspeisen las-
sen: „Die Proteste werden vom kollek-
tiven Zorn der Bürger geführt“, erklärt
der libanesische Publizist Rami G.
Khouri. Schiiten, Sunniten und Chris-

ten protestieren gemeinsam. Sie tra-
gen dabei nicht die Symbole ihrer je-
weiligen Gruppe, sondern schwenken
die Staatsflagge Libanons.
Bei früheren Protestwellen hatten
die einzelnen Bevölkerungsgruppen
loyal zu ihren Parteien gehalten, nicht
aber dieses Mal. So wird in der Stadt
Baalbek, einer Hochburg der schiiti-
schen Hisbollah, die Schiitenpartei für
die Krise mitverantwortlich gemacht,
da sie an der Regierung beteiligt ist.
In Gegenden mit einem starken
sunnitischen Bevölkerungsanteil wer-
den Poster heruntergerissen, auf de-
nen der sunnitische Premier Saad
Hariri zu sehen ist. Und in christlich
dominierten Stadtteilen werden Bil-
der des christlichen Präsidenten Mi-
chel Aoun verunstaltet. Der Zorn im
sonst polarisierten Staat hat zu ei-
nem überraschenden Schulterschluss
zwischen den einzelnen Gruppen ge-
führt, die sonst verfeindet sind. Das
könnte die künftigen Kräfteverhält-
nisse verändern, meinen politische
Beobachter in Beirut.

Hohe Steuern für Banken
Unter dem Eindruck der Proteste und
auf Anraten europäischer Berater hat
die libanesische Regierung am Mon-
tag ein Reformpaket verabschiedet.
Das Ziel ist ehrgeizig. Für das Budget
wird ein Defizit von „fast null“ ange-
strebt. Außerdem soll das Image der
als korrupt geltenden politischen Elite
verbessert werden. So sollen der Prä-
sident, die Minister und Parlamenta-
rier einen Lohnschnitt von 50 Pro-
zent hinnehmen, die Banken und
Versicherungsfirmen mit einer Steuer
von 25 Prozent belegt werden, und
auch Richter sowie Staatsangestellte

müssten mit einem geringeren Salär
auskommen, falls das Reformpaket
umgesetzt wird.
Die Telekommunikation soll zudem
privatisiert und die Stromversorgung
generalüberholt werden. Die Proteste
würden „den Schmerz der Bevölke-
rung“ zeigen, meinte Präsident Aoun
während der Kabinettssitzung. Aber
es sei falsch, die Korruptionsvorwürfe
zu verallgemeinern. Damit wider-
spricht er den Demonstranten, die auf
den Straßen und Plätzen „Alle bedeu-
tet alle!“ skandieren und die Erneue-
rung der politischen Klasse fordern.
Erstmals seit Beginn der Protestwel-
le meldete sich Teheran zu Wort. Er
hoffe, dass die Regierung und die po-
litischen Parteien die Forderungen
der Bürger ernst nehmen, sagte Au-
ßenminister Mohammad Javad Zarif.
Der Iran ist der wichtigste Verbündete
der Schiitenmiliz Hisbollah, die große
Teile des Libanons kontrolliert.

Kein einfacher Ausweg
Der Libanon ist hochverschuldet und
verwendet 40 Prozent seiner öffentli-
chen Einnahmen für den Schulden-
dienst. Die Regierung steht jetzt vor
der Alternative, die Währung abzuwer-
ten oder externe Finanzspritzen einzu-
setzen. Eine Abwertung würde die Le-
benshaltungskosten weiter in die Höhe
treiben. Finanzspritzen würden vo-
raussetzen, dass Reformen bei auslän-
dischen Geldgebern Vertrauen in die
Erneuerungskraft des Landes wecken.
Gegen beide Optionen dürfte es
zwar innenpolitischen Widerstand ge-
ben. Aber angesichts der tiefen Krise
wird sich das Land rasch entscheiden
müssen, welche Medizin es den Bür-
gern zumuten will.

Naher Osten


Libanesischer Frühling


Die neue Protestbewegung im Libanon ist anders: Verschiedene


Religionsgruppen demonstrieren Seite an Seite gegen die Regierung.


Protest in Beirut
am Sonntag:
Die Jugend geht
vereint auf die Straße.

REUTERS


Großbritannien


Johnsons


nächste


Niederlage


Kerstin Leitel London


D


er britische Premierminister
Boris Johnson hat eine weite-
re Niederlage im Kampf um
den Brexit erlitten: Am Montag lehnte
Parlamentspräsident John Bercow ei-
nen Antrag der Regierung ab, über
den Brexit-Deal abzustimmen. Pre-
mier Johnson hatte offenbar vor, mit
einer solchen Abstimmung der EU zu
demonstrieren, dass er für den vorlie-
genden Brexit-Deal die Unterstützung
des Parlaments hat und eine Verschie-
bung des Brexits nicht notwendig sei.
Dieses Vorhaben wurde durchkreuzt.
Darüber hinaus ist keineswegs klar, ob
der Premier tatsächlich eine Mehrheit
für seinen Brexit-Deal vorweisen
könnte.
Die Regierung dürfte jetzt versu-
chen, die für den EU-Austritt notwen-
digen Gesetze („Withdrawal Agree-
ment Bill“) in den kommenden Tagen
durch das Parlament zu bringen. Das
würde die Möglichkeit eröffnen, dass
Großbritannien noch am 31. Oktober
aus der EU ausscheidet. Experten hal-
ten diesen Plan für sehr ambitioniert –
selbst wenn die Regierung offenbar
die Abgeordneten zu Überstunden
verpflichten will.
Bereits am Samstag hatte die Regie-
rung einen Schlussstrich unter die ers-
te Phase des Brexits ziehen wollen.
Aber schon da war sie gescheitert:
Nachdem das Parlament für einen Än-
derungsantrag des Abgeordneten Oli-
ver Letwin stimmte, war die Abstim-
mung über den Brexit-Deal verscho-
ben worden. Der Letwin- Antrag legt
fest, dass der Brexit-Deal erst in Kraft
treten kann, wenn die für den EU-Aus-
stieg notwendigen Gesetze verab-
schiedet wurden. Es ist eine Art Versi-
cherung gegen den No-Deal-Brexit:
Denn so war Premier Johnson ge-
zwungen, am Samstag in Brüssel ei-
nen Antrag auf Verschiebung des Bre-
xits zu stellen. Zudem haben die Bre-
xit-Hardliner nicht die Gelegenheit,
während des Gesetzgebungsverfah-
rens doch noch einen No-Deal-Brexit
auszulösen.
In der Nacht zu Sonntag hatte John-
son deswegen die Verschiebung des
Brexit-Datums in die Wege geleitet –
mit offen zur Schau getragenem Pro-
test: Den Antrag schickte er lediglich
in Form einer Fotokopie und ohne
Unterschrift nach Brüssel. Zudem leg-
te er dem Antrag zwei weitere Doku-
mente bei, in denen die Regierung er-
klärte, eigentlich gar keine Verlänge-
rung zu wünschen. Aufseiten der EU
wurde der Antrag trotzdem als gültig
akzeptiert.
Es gilt als wahrscheinlich, dass die
EU eine erneute Verlängerung ge-
währt. Aber wie viel Zeit die Briten
brauchen, hängt davon ab, was in den
kommenden Tagen im Londoner Par-
lament passiert – je nachdem, ob die
Abgeordneten weitere Gesetzesanträ-
ge durchdrücken, denen zufolge der
Brexit-Deal noch mit einem zweiten
Referendum bestätigt oder nach ihren
Wünschen ergänzt werden muss. So
gibt es weiterhin die Forderung, dass
Großbritannien in einer Zollunion mit
der EU bleibt. Daneben besteht im-
mer die Möglichkeit, dass ein Miss-
trauensantrag Neuwahlen auslöst. Ak-
tuellen Umfragen zufolge liegt die
konservative Regierungspartei vor der
Opposition.


40


PROZENT
seiner öffentlichen
Einnahmen verwendet
der Libanon für den
Schuldendienst.
Quelle:
Regierungsangaben

Wirtschaft & Politik


(^12) DIENSTAG, 22. OKTOBER 2019, NR. 203
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