„Es ist mir persönlich auch hoch wie breit.
Im Ergebnis ist mir allerdings lieber,
Herr Erdogan schießt mit Worten als mit
Raketen. Wenn wir uns darauf verständigen
können, kann er mich gern weiter beschimpfen.“
Heiko Maas, Bundesaußenminister, über die Angriffe des türkischen
Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Erdogan hatte Maas unter anderem
einen „politischen Dilettanten“ genannt.
Worte des Tages
Rentenalter
Dividende
gerecht teilen
K
aum ein Streit wird regie-
rungsintern derzeit erbitter-
ter geführt als der über die
Grundrente und die Frage, wer sie
bekommen soll. Dabei rückt eine
andere, aber nicht weniger wichtige
Gerechtigkeitsfrage leicht in den
Hintergrund: Ist es fair, bei steigen-
der Lebenserwartung die Erwerbs-
phase konstant zu lassen und nur
die Rentenphase zu verlängern?
Nein, das ist nicht gerecht gegen-
über der jungen Generation, die oh-
nehin schon für eine wachsende
Zahl von Ruheständlern aufkom-
men muss. Es ist gut, dass die Deut-
schen dank des medizinischen Fort-
schritts und weniger belastender
Arbeit immer älter werden. Wenn
aber nur die Rentner die Dividende
der steigenden Lebenserwartung
einstreichen und die Arbeitnehmer
dafür zahlen sollen, dann verdient
der Generationenvertrag seinen Na-
men nicht mehr.
Eine Verschiebung des Renten-
eintrittsalters auch über die 67 Jah-
re hinaus darf deshalb kein Tabu
sein – erst recht nicht für die Ren-
tenkommission, die bis März 2020
Vorschläge für eine zukunftsfeste
Alterssicherung vorlegen soll. Es ist
gut, wenn die Bundesbank jetzt da-
rauf hinweist, dass die Relation aus
Beitrags- und Rentenjahren ja kon-
stant bleibt, wenn das Rentenalter
an die Lebenserwartung geknüpft
wird. Beschäftigte und Ruheständ-
ler profitieren gleichermaßen, Bei-
träge und Sicherungsniveau ließen
sich leichter stabil halten als bei ei-
nem statischen Renteneintrittsalter.
Akzeptanz wird das längere Ar-
beiten aber nur finden, wenn es
auch genügend geeignete Jobs für
Ältere gibt und der Altenpflegerin
oder dem Bauarbeiter auch ein frü-
herer Um- oder Ausstieg ermöglicht
wird. Denn sonst werden Kritiker
recht behalten, die argwöhnen,
dass die Kopplung des Rentenalters
an die Lebenserwartung vor allem
einem Ziel dient: möglichst viele
Beschäftigte mit Abschlägen in den
Ruhestand zu drängen und so die
Rentenkasse zu entlasten.
Die Erwerbsquote der ruhe-
standsnahen Jahrgänge ist zuletzt
gestiegen. Setzt sich dieser Trend
fort, steht irgendwann auch einer
Rente mit 69 nichts im Wege.
Die Bundesbank hat recht, wenn
sie das Renteneintrittsalter an die
steigende Lebenserwartung
koppeln will, meint Frank Specht.
Der Autor ist Korrespondent in
Berlin. Sie erreichen ihn unter:
[email protected]
M
isstöne auf internationaler Bühne
muss sich Kremlherr Wladimir Pu-
tin derzeit nur von Militärkapellen
im Ausland anhören: Ob in Riad vo-
rige Woche oder kurz zuvor in Kairo
- bei den Musikern in Uniform ist der Wandel der
Weltordnung noch nicht angekommen, und so spiel-
ten sie die russische Nationalhymne bis zur Un-
kenntlichkeit schaurig verkehrt. Russische Präsiden-
ten waren bis vor Kurzem nur äußerst selten Gäste
in der arabischen Welt. Im Juni 2013 zog Russland
sogar seine letzten Soldaten von einer Militärbasis
im syrische Tartus ab. Es war der letzte Stützpunkt
Moskaus, Russlands Rolle in der ebenso öl- wie kri-
senreichen Region schien Geschichte zu werden.
Doch Putins Husarenritt, als er 2015 militärisch an
der Seite von Diktator Baschar al-Assad in Syrien
eingriff, hat die Atommacht Russland, vom damali-
gen US-Präsidenten Barack Obama verbal zur „Re-
gionalmacht“ degradiert, wieder auf die Weltbühne
gebracht. Am Dienstag empfängt Putin in der
Schwarzmeer-Olympiastadt Sotschi den türkischen
Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, um über eine
Lösung für Syrien zu reden. Während der Westen
die Türkei kritisiert wegen des Einmarschs in den
Norden Syriens, zieht Putin das Nato-Land immer
weiter zu sich.
Schon mit der Lieferung des russischen Raketen-
abwehrsystems S-400 ins Nato-Land Türkei ist Putin
seinem Ziel der Spaltung des westlichen Bündnisses
ein gutes Stück näher gekommen. In Syrien ist Anka-
ra auf Putins Wohlwollen angewiesen. Während sei-
ne Luftwaffe Krankenhäuser in Syrien bombardiert
und russische Söldner inzwischen fast das ganze
Land wieder in die Hände des Diktators gebracht ha-
ben, spielt sich Putin als Schiedsrichter und Frie-
densstifter auf.
Der von Donald Trump angewiesene Abzug der US
Army hat Russland endgültig zum Schlüsselspieler in
der ganzen Region gemacht. Genüsslich hielt Putins
TV-Chefpropagandist Dmitri Kissiljow bereits einen
polnischen Zeitungsartikel in die Kamera: „Lässt
Trump nach den Kurden auch Polen fallen?“, fragten
darin besorgte Nato-Bündnispartner. Und der russi-
sche Propagandasender „Russia Today“ fragt über-
heblich: „Kann Russland Freund von allen sein?“
Tatsächlich haben sich auch frühere Erzfeinde wie
Saudi-Arabien inzwischen eng an Russland ge-
schmiegt. Sogar noch nach den dem Iran, einem en-
gen russischen Verbündeten in Syrien, unterstellten
verheerenden Raketen- und Drohnenattacken auf
saudische Ölanlagen wurde der Kremlherrscher vori-
ge Woche pompös und erstmals seit 2007 in Riad
empfangen. Gleich danach ging es weiter nach Abu
Dhabi, einem weiteren bisher engen Verbündeten
von Washington im Mittleren Osten. Und später in
dieser Woche lädt Putin zum Russland-Afrika-Gipfel.
Moskau hat bereits 40 Militärabkommen mit afri-
kanischen Staaten abgeschlossen, davon allein 19 in
den letzten vier Jahren. Kairo hat zudem Russland
gebeten, im Streit zwischen Ägypten und Äthiopien
über einen neuen Nil-Staudamm zu vermitteln.
Ägypten ist eigentlich ebenfalls enger Militärpartner
der USA.
Russland wird so global zum Erben des sich zu-
rückziehenden Weltpolizisten Amerika.
Denn Putins Sieg in Syrien ist ein großes Signal an
alle Despoten: Hier steht einer sicher an eurer Seite,
während Trump das Gegenteil demonstriert: Ameri-
kas Unzuverlässigkeit. Die Araber brauchen den
Kreml, um die Macht des schwächelnden Ölkartells
Opec zu erhalten und den Ölpreis zu stabilisieren.
Die Afrikaner setzen auf russische Waffen, der Iran
und Syrien auf Russlands Schutz. Und China auf den
Schulterschluss in der multipolaren Welt gegen Wa-
shington.
Putin, der den saudischen Kronprinzen Moham-
med bin Salman auf dem ersten G20-Gipfel nach der
Ermordung des oppositionellen Bloggers Jamal
Khashoggi ausgiebig und öffentlich herzte, während
westliche Staatsführer auf Distanz gingen, baut so
seine antiliberale Internationale auf: Prinz Moham-
med, Erdogan, Irans Ruhani, Ägyptens al-Sisi und
Chinas Xi – eine unappetitliche Mischung, unterei-
nander meist spinnefeind, aber gemeinsam verbün-
det um Kremlchef Putin.
Was sich wie eine Wahnvorstellung anhört, ist der
Spaltung des Westens durch Trump geschuldet, ge-
nauso wie der Unentschlossenheit Europas mit Blick
auf Kriegsherde wie Syrien und in Krisenregionen
wie Afrika. Dabei wird eine große Gefahr übersehen:
Durch sein Engagement in Syrien, mit der Türkei,
am Golf und in Afrika kann Russland künftig Flücht-
lingsströme lenken und Europa destabilisieren.
50 Jahre nach der Wahl Willy Brandts zum Bundes-
kanzler, der sich der Aussöhnung mit dem Osten und
dem Nord-Süd-Dialog mit den Entwicklungsländern
verschrieben hatte, ist es Zeit, aufzuwachen und mit
der Selbstzerlegung des Westens aufzuhören. Europa
und die USA brauchen eine Neubestimmung ihres
Bündnisses, eine Lastenteilung auf globaler Ebene
und eine gemeinsame Haltung zu Russland.
Leitartikel
Der Sieger
heißt Putin
Dummheit,
Ignoranz und
Unentschlossenheit
des Westens haben
Russland wieder zu
einem Schlüsselspieler
auf der Weltbühne
aufsteigen lassen. Und
Moskau nutzt
strategische Fehler
brutal aus, warnt
Mathias Brüggmann.
Europa und
die USA
brauchen eine
Neubestimmung
ihres Bündnis-
ses, eine Lasten-
teilung auf glo-
baler Ebene und
eine gemeinsa-
me Haltung zu
Russland.
Der Autor ist International Correspondent.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]
Meinung
& Analyse
(^14) DIENSTAG, 22. OKTOBER 2019, NR. 203
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