Handelsblatt - 22.10.2019

(Joyce) #1
Florian Kolf, Volker Votsmeier, Martin Greive
Düsseldorf, Berlin

D


er Schaden war gewaltig. Auf Markt-
plätzen wie Amazon oder Ebay wa-
ren Tausende betrügerische Händler
aktiv, die ihre Waren zu Dumping-
preisen verkauften. Sie prellten den
deutschen Staat um die 19-prozentige Umsatzsteu-
er. Dem deutschen Fiskus fehlten Jahr für Jahr
dreistellige Millionen-, wenn nicht gar Milliarden-
beträge in der Kasse. Auch für ehrliche Anbieter
war der Steuerbetrug eine Katastrophe. Sie konn-
ten im Preiskampf mit ihren betrügerischen An-
bietern schlicht nicht mithalten. Besonders Händ-
ler aus China und Hongkong verkauften ihre Wa-
ren viel billiger. Viele von ihnen dachten nicht da-
ran, die 19-prozentige Umsatzsteuer an das zustän-
dige deutsche Finanzamt Berlin-Neukölln zu über-
weisen. Die meisten Anbieter aus Fernost hatten
sich in Deutschland steuerlich nicht einmal regis-
trieren lassen.
Seit 2019 ist das vorbei. Mit dem „Jahressteuerge-
setz 2018“ hat der Gesetzgeber beschlossen, dass
die Betreiber von Plattformen für den Schaden haf-
ten, wenn Händler die Umsatzsteuer nicht abfüh-
ren. In der Praxis zahlte der Kunde einen Preis in-
klusive Mehrwertsteuer, aber die Ware kam ohne
Rechnung, und der Händler führte die Umsatzsteu-
er einfach nicht ab. Das blieb meist folgenlos, weil
die Finanzbeamten und Staatsanwälte die ausländi-

schen Anbieter nur schwer verfolgen und sanktio-
nieren konnten.
Mit dem vollständigen Inkrafttreten der Rege-
lung am 1. Oktober 2019 haftet ein Marktplatz für
die Mehrwertsteuer auf Waren, die über die Platt-
form verkauft werden. „Gesamtschuldnerisch“
nennen das die Experten. Amazon, Ebay und Co.
können die Haftung nur dann vermeiden, wenn sie
eine Bescheinigung auf Papier vorlegen, die den
auf ihrer Plattform tätigen Verkäufer als steuerlich
sauber einstuft. Der Verkäufer muss sich diese Be-
scheinigung vom zuständigen Finanzamt besorgen.
Er kommt damit nicht mehr darum herum, sich
steuerlich registrieren zu lassen. Für Händler, die
diese Bescheinigung nicht vorweisen können, aber
trotzdem auf einer Plattform ihre Waren anbieten,
haftet im Zweifel der Online-Marktplatz. Er muss al-
so für die 19-prozentige Umsatzsteuer geradeste-
hen. Die Neuregelung zeigt Wirkung. Im Mai 2017
hatten sich gerade einmal 430 Unternehmer aus
China einschließlich Hongkong, Macau und Taiwan
registrieren lassen. Mitte Oktober 2019 sind es be-
reits 26 388 Firmen aus dieser Region.
Doch trotz der Erfolge gibt es nun massiven Ge-
genwind aus der EU. Die EU-Kommission hat ein
Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Die Bun-
desrepublik wird in einer Mitteilung von Mitte Ok-
tober aufgefordert, „jüngst beschlossene Gesetzes-
änderungen zu widerrufen, die zulasten europäi-
scher Unternehmen gehen, die online Waren an
deutsche Verbraucher verkaufen“. Denn die neue

Meldepflicht bezieht sich nicht nur auf Händler aus
kritischen Ländern wie China, sondern auf alle An-
bieter – also auch solche aus der Europäischen Uni-
on. Damit ist die Warenverkehrsfreiheit – eine der
vier Grundfreiheiten der Union – verletzt.
Die EU-Kommission belässt es nicht bei einer
schlichten Mitteilung, sondern liest dem deutschen
Gesetzgeber förmlich die Leviten. Vor allem die
Verpflichtung sämtlicher Händler, dem Marktplatz-
betreiber eine Steuerbescheinigung auf Papier vor-
legen zu müssen, sorgt vor harsche Kritik. „Ineffi-
zient und unverhältnismäßig“, sei das Verfahren,
heißt es aus Brüssel.
Es behindere außerdem den Zugang europäi-
scher Unternehmen zum deutschen Markt, das
stelle einen Verstoß gegen das EU-Recht dar. „Da-
rüber hinaus haben sich die EU-Mitgliedstaaten be-
reits auf gemeinsame und effizientere Maßnahmen
zur Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug geei-
nigt, die am 1. Januar 2021 in Kraft treten“, schreibt
die Kommission. In gut einem Jahr treten EU-weit
völlig neue Regeln für den digitalen Austausch von
Waren und Dienstleistungen in Kraft.
Unter dem Strich gehen der EU-Kommission die
Pflichten viel zu weit, die der deutsche Staat den
Betreibern digitaler Marktplätze auferlegt, die eine
Haftung vermeiden wollen. Das in den EU-Vor-
schriften vorgesehene Maß sei überschritten, und
das Ziel, einen digitalen Binnenmarkt zu schaffen,
werde konterkariert. Brüssel fordert Konsequen-
zen. „Schafft Deutschland nicht binnen zwei Mona-

Gut gemeint,


schlecht gemacht


Die EU-Kommission leitet ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein.


Ein neues Gesetz schaffe zu viel Bürokratie und beschränke den freien Warenverkehr


auf Online-Plattformen wie Amazon Marketplace oder Ebay.


26 388


FIRMEN
aus China, Hongkong,
Macao und Taiwan
sind umsatzsteuerlich
in Deutschland
registriert.
Quelle:
Senatsverwaltung
für Finanzen Berlin

EU-Kommission:
In Brüssel sieht man
in der deutschen
Bürokratie ein
Wettbewerbs-
hindernis.

LAIF


Unternehmen


& Märkte


(^16) DIENSTAG, 22. OKTOBER 2019, NR. 203
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