Die Zeit - 26.09.2019

(Nandana) #1
Maaßen: Man kann natürlich die Zahl der
Fahrraddiebstähle und der Vergewaltigun-
gen zusammenrechnen und sagen: Unterm
Strich ist alles gut. An bestimmten Brenn-
punkten haben wir aber erhebliche Proble-
me mit Kriminalität. Bei meinen Wahl-
kampfauftritten in Sachsen und in Bran-
denburg habe ich gemerkt, dass die Leute
diese Probleme vor Ort zwar nicht haben,
sie diese aber aus dem Fernsehen mitkrie-
gen. Und sagen: Ich möchte hier nicht das
haben, was im Wedding passiert. Ja, als
Demokrat darf man aus der Angst kein
Kapital schlagen. Aber man muss die Angst
der Menschen zugleich ernst nehmen.
Baum: Freiheit ist ohne Risiko nicht vor-
stellbar. Das Risiko ist immer da, wir kön-
nen es nur mindern.

Maaßen: Aber es hängt von der politischen
Haltung ab, wie viel Risiko man bereit ist
einzugehen.
Baum: Jedenfalls gibt es ein Missverhältnis
in der öffentlichen Wahrnehmung. Wenn
ein Muslim eine deutsche Frau ermordet


  • schlimm genug –, erregt das riesige Auf-
    merksamkeit. Aber im Jahr 2017 wurden
    in Deutschland 147 Frauen von ihren
    Partnern getötet. Das ist überhaupt kein
    Thema! Warum werden bestimmte Morde
    genutzt, um Stimmung gegen Fremde zu
    machen? Der Fremde ist bei uns der Sün-
    denbock!
    Maaßen: Zur Wahrheit gehört, dass wir ein
    Problem mit Islamismus haben. In den Si-
    cherheitsbehörden sprachen wir von den
    vier Ms, mit denen wir es immer wieder zu
    tun haben: männlich, muslimisch, Migra-
    tionshintergrund, Misserfolge in Schule
    und Beruf. Ähnliches sehen wir in den
    neuen Ländern mit Rechtsextremisten:
    junge Leute, die Anschluss suchen, ihn
    aber nicht finden, weil es nichts mehr gibt,
    selbst die letzte Kneipe hat zugemacht. Da
    muss man eingreifen.
    ZEIT: Die Erregung erklärt sich womög-
    lich auch damit, dass es aus Sicht vieler
    Bürger einen moralischen Unterschied
    macht, ob jemand, der in Deutschland
    Schutz gefunden hat, hier Verbrechen be-
    geht oder ein hier Geborener.
    Baum: Die Zuwanderung bringt mitunter
    schwierige Probleme, das sehe ich auch.
    Aber wenn jemand hier ist, ist er an unser
    Recht gebunden.
    Maaßen: Ich würde nicht aus der morali-
    schen Perspektive argumentieren, sondern
    fragen, ob wir es mit einem Politik- und
    Verwaltungsversagen zu tun haben. Aus-
    länderrecht ist schließlich auch Ordnungs-
    recht. Und wenn 43 Prozent aller Morde
    und Tötungsdelikte von Ausländern be-
    gangen werden ...
    Baum: Vorsicht mit dem Begriff Auslän-
    der! Da ist auch der polnische Gastarbeiter
    mit dabei und der Ingenieur aus Groß-
    britannien.
    Maaßen: ... ja, sicher. Von mir aus sind
    auch Luxemburger und Dänen dabei. Aber


der Anteil von 43 Prozent bei den Tötungs-
delikten ist für mich keine moralische
Größe, sondern eine Größe, um die sich
die Politik kümmern muss.
Baum: Bekämpfung von Ausländerkrimi-
nalität ist ein Schwerpunkt unserer Sicher-
heitsbehörden. Sie darf nicht zum Argu-
ment für Ausländerfeindlichkeit oder gar
Rassismus werden.
Maaßen: Überhaupt nicht! Es muss aber
ein Argument sein für eine Diskussion da-
rüber, ob die Politik hier nicht nachjustie-
ren muss. Muss die Zahl nicht sinken, da-
mit die Menschen in Frieden zusammen-
leben können?
ZEIT: Gibt es ein Problem mangelnder
Gesetze oder eines mangelnder Gesetzes-
durchsetzung?
Maaßen: Wir haben ein Problem mit dem
Vollzug in der Verwaltung.
Baum: Bitte benennen Sie die Probleme.
Maaßen: Wir haben zum Beispiel 240.
Personen, die abgeschoben werden sollen,
und nur 23.000 werden abgeschoben.
Baum: Auch hier Vorsicht mit der Statistik.
Wie gehen wir zum Beispiel mit denen
um, die sich bereits integrieren? Es bleibt
Ihre berechtigte Kritik, dass mehr Abschie-
bungen möglich sein sollten. Sie wissen
aber doch auch, wie schwierig das im Ver-
waltungsverzug ist.
Maaßen: Wir können es trotzdem nicht
hinnehmen, dass uns sogenannte Partner-
staaten auf der Nase herumtanzen.
ZEIT: Herr Baum, in Deutschland werden
die politischen Ränder wieder stärker. Sie
haben in Ihrer Zeit als Bundesinnenminis-
ter 1979 den Radikalenerlass zurück ge-
nommen, mit dem die Verfassungstreue
von Mitarbeitern im öffentlichen Dienst
überprüft wurde. War das richtig?
Baum: Ja! Viele Jahre lang hat der Verfas-
sungsschutz eine Riesenzahl von politi-
schen Aktivitäten vor allem junger Men-
schen flächendeckend erfasst, um im gege-
benen Fall deren Verfassungstreue zu prü-
fen. Die Bundesregierung kam 1979 zu
dem Ergebnis, dass eine solche flächen-
deckende Gesinnungsschnüffelei unnötig
ist und das politische Klima vergiftet. Aber

in begründeten Fällen wird die Verfassungs-
treue auch heute geprüft, wenn Demokra-
tiefeinde in den Staatsdienst wollen.
Maaßen: Es mag damals gute Gründe ge-
geben haben, den Erlass aufzuheben. Aber
wir haben heute den Bedarf für eine bes-
sere Regelung. Ich finde Extremisten, also
Leute, die einen anderen Verfassungsstaat
wollen, im Staatsdienst in keiner Weise
akzeptabel, weder in der Schule noch in
der Justiz, noch in der Bundeswehr. Ich
will keinen Islamisten als Grundschulleh-
rer, keinen Nazi als Richter und keinen
Kommunisten in der Ministerialverwal-
tung. Um ein Beispiel zu nennen: Mir war
bekannt geworden, dass ein dem Verfas-
sungsschutz bekannter Rechtsextremist im
Wachdienst einer Behörde war. Das pas-
siert, weil der Verfassungsschutz nicht ge-
fragt wird. Denkbar ist auch, dass eine
Putzfrau im Kanzleramt Ehefrau von ei-
nem der 2200 gewaltbereiten Islamisten
ist, die es in Deutschland gibt. Weil der
Datenfundus des Verfassungsschutzes
nicht abgefragt wird.
ZEIT: Sie wollen die Regelanfrage zurück


  • die anlasslose Überprüfung von jedem,
    der im öffentlichen Dienst angestellt wird?
    Maaßen: Ja, denn ich möchte nicht, dass
    sich der Staat künstlich dumm stellt. Aber
    das bedeutet nicht, dass jede Information
    einer Verfassungsschutzbehörde schon zur
    Kündigung führt. Der Staat als Arbeitgeber
    muss bloß wissen, mit wem er es zu tun hat.
    ZEIT: Noch jeweils eine persönliche Frage.
    Herr Baum, Ihre Mutter war ein Flücht-
    ling aus dem revolutionären Russland.
    Baum: Ja, wir sind doppelte Flüchtlinge.
    Meine Mutter war eine Emigrantin der
    Oktoberrevolution. Und ich war Flücht-
    ling nach dem Krieg. Ich wurde in Bayern
    in das Schlafzimmer von Leuten eingewie-
    sen, die das räumen mussten. Ich habe
    diese ganzen Aversionen gegen Flüchtlinge
    miterlebt, bei denen, die ungeschoren ge-
    blieben waren.
    ZEIT: Herr Maaßen, in Ihrer Familie gab
    es Konfrontationen mit der Gestapo. Wie
    hat das Ihre Arbeit als Sicherheitsbeamter
    beeinflusst?


Maaßen: Mein Onkel war damals von der
Gestapo vorgeladen worden, weil er heim-
lich Predigten des Bischofs Clemens von
Galen aus Münster gedruckt hatte, der sich
gegen Euthanasie und die Judenverfolgung
aussprach. Dieser Onkel sagte mir, das
Schlimmste sei damals das Wegsehen der
Nachbarn und Bekannten gewesen. Keiner
hatte den Mut, ihn zu unterstützen oder
sich öffentlich zu äußern. Dieses Ducker-
tum, diese Feigheit habe ich als etwas Ab-
stoßendes mitgenommen. Und ich habe
auch mitgenommen: Einen Schlussstrich
darf es nicht geben.

Moderation: Jochen Bittner und
Mariam Lau Fotos: Urban Zintel

Gerhart Baum
war von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister.
Der FDP-Politiker warnt seit je vor dem Über-
eifer von Strafverfolgungsbehörden. Als Rechts-
anwalt hat er mehrfach erfolgreich Verfassungs-
beschwerde eingelegt, unter anderem gegen den
»großen Lauschangriff« und das Luftsicher-
heitsgesetz. Einer seiner Leitsätze lautet: »Der
Bürger hat ein Recht darauf, vom Staat in Ruhe
gelassen zu werden«

Hans-Georg Maaßen
war bis Herbst 2018 Präsident des Bundesamtes
für Verfassungsschutz. Auslöser seiner Entlas-
sung war seine öffentliche Einschätzung, es
habe bei Ausschreitungen in Chemnitz keine
»Hetzjagden« auf Migranten gegeben. Maaßen
engagiert sich seitdem bei der Werte-Union,
einem konservativen Zirkel der CDU. Er selbst
beschreibt sich als »nüchterner Realist, der sich
große Sorgen um die Zukunft Europas macht«

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  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 40 STREIT 11


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