Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1

Luna mag Pflanzen. Ich selbst finde Pflanzen okay, aber ich ste-


he ihnen eher indifferent gegenüber. Besonders indifferent stand
ich Pflanzen gegenüber, als ich in Lunas Alter war. Es gibt genau

eine Pflanze, die in meiner Obhut überlebt hat: der Kaktus meines
Großvaters. Ein Ohrenkaktus, der einem kleine Nadeln ins Fleisch

setzt, sobald man ihm zu nahe kommt. Solch ein Kaktus braucht
nur ein Minimum an Pflege, eigentlich ein Nullum.

Luna hat Pflanzen in ihrem Zimmer, die ich selbst noch nie zuvor
gesehen habe. Eine Kaffeepflanze etwa. Luna trinkt keinen Kaffee,

sie gießt ihn. Luna sammelt auch Pflanzen auf der Straße auf. Sie
hat eine Monstera bei sich aufgenommen, die irgendein herzloser

Bürger auf dem Bordstein hat stehen lassen. Gewissermaßen aus-
gesetzt. Luna hat dieses Gewächs mit den großen, dunkelgrünen,

geschlitzten Blättern nach Hause getragen. Sie hat einen neuen
Topf dafür gekauft und neue Erde. Hätte sie eine entsprechende

Pflanze im Gartencenter des örtlichen Baumarktes gekauft, wäre sie
wohl viel günstiger weggekommen. Aber das ist für sie etwas völlig

anderes. Nun gedeiht die Monstera bei ihr, und immer wenn wir
telefonieren, ist das Erste, was sie mir erzählt, wie es ihren Pflanzen

geht. »Sie treiben wieder aus!«, berichtet sie dann stolz. Im Inter-
net gibt es manchmal Videos von verwahrlosten Hunden, die von

Hundeliebhabern in Pflege genommen werden. Man sieht dann,
wie sie gewaschen, gebürstet, entlaust und entwurmt werden. Am

Schluss sieht man einen glücklichen Hund. Luna könnte ohne
Probleme ein solches Video von ihrer geretteten Pflanze drehen,

vielleicht im Zeitraffer.
Ich finde das manchmal etwas drollig, denn – bitte schön – es

geht ja wohl nur um Pflanzen, oder? In meiner Ge ne ra tion galt
es lange als außerordentlich spießig, Pflanzen in der Wohnung zu

haben. Es hatte etwas von einem kleinbürgerlichen Idyll in der
Etagenwohnung. Manchmal bekam man einen Ficus benjamini

geschenkt, von den Eltern etwa. Das war ein bisschen uncool, aber
es gab immerhin eine Möglichkeit, das Gewächs lässig zu vernach-

lässigen: Man wartete, bis das Ding alle Blätter abgeworfen hatte
und man es im Müllcontainer im Hinterhof entsorgen konnte.

Heute leben wir in anderen Zeiten, das ist mir schon bewusst.
Heute werden Pflanzen allgemein mehr geschätzt. Heute hat man

eine Designersukkulente auf dem Fensterbrett stehen, und die
Leute sind stolz darauf, wenn sie mit Petersilie auf dem Balkon ein

bisschen Home- Gar de ning betreiben können. Und wenn sie sogar
Zucchinis im Hochbeet gezüchtet haben, dann posten sie davon

Bilder auf Instagram.
Aber für Luna sind Pflanzen mehr als ein Mittel zur Selbstdarstel-

lung. Neulich erzählte sie mir, dass ihr Bonsai gestorben sei. Sie
sagte nicht »eingegangen«. Auf einmal habe er alle Blätter verloren,

obwohl sie sich sklavisch an die Pflegeanleitung gehalten habe. Ich
tröstete: »Es ist doch nur ein kleiner Baum.«

Dann sah ich die Bilder vom brennenden Amazonaswald. Da
fragte ich mich, ob ich diese Bilder anders wahrnehmen würde,

erschrockener wäre, würde ich die Welt mit den Augen meiner
Tochter sehen. Und ob Leute wie ich vielleicht ein Teil des Pro-

blems sind. Die eine sterbende Pflanze sehen und sagen: Es ist
doch nur ein Baum. Der Kaktus meines Großvaters steht immer

noch auf meinem Balkon. Er wird mich wohl überleben.


Prüfers Töchter MEINE 19-JÄHRIGE


Illustration Aline Zalko


Luna ist 19 Jahre alt. Ihr Vater Tillmann Prüfer schreibt


hier im wöchentlichen Wechsel über sie und seine


anderen drei Töchter im Alter von 14, 12 und 6 Jahren


»Sie treiben


wieder aus!«


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