Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1

Das abgeschriebene Land


Leidet der Osten bis heute unter den Fehlern der Treuhandanstalt? Sie sollte die DDR-Wirtschaft privatisieren. Sechs Menschen, die


damals dabei waren, erzählen hier von der umstrittenen Arbeit der Behörde VON MARCUS BÖICK, MARC BROST UND KARLOTTA FREIER (ILLUSTRATION)


8000 Betriebe. 13.000 Privatisierungen.


Drei Millionen verlorene Arbeitsplätze.


Und am Ende 260 Milliarden D-Mark


Verlust. Kaum etwas symbolisiert die


vielfachen Enttäuschungen der


Nachwendezeit so sehr wie die Treuhand-


anstalt. Innerhalb von vier Jahren, von


1990 bis 1994, sollte sie alle Volkseigenen


Betriebe der DDR sanieren, privatisieren


oder abwickeln. Für die einen war die


Treuhand schlicht das »größte


Unternehmen der Welt«. Andere nannten


sie allmächtige »Skandalbehörde«,


undurchsichtiges »Bürokratiemonster« oder


verhasstes »Schlachthaus«.


Dabei herrscht direkt nach der Wende


noch Aufbruchstimmung. Viele hoffen


auf ein zweites Wirtschaftswunder, nur


eben diesmal im Osten. Die Leitung der


Superbehörde übernimmt Detlev Karsten


Rohwedder, ein früherer Stahlmanager


aus dem Westen. Ein Machertyp.


Die ersten Monate in der Treuhand sind


geprägt vom kreativen Chaos: Es gibt


kaum Vorschriften oder Regeln; die meisten


Mitarbeiter haben vorher noch nicht


zusammengearbeitet; vor allem aber


gibt es keine Blaupause für das, was sie


von nun an tun sollen – eine ganze


Volkswirtschaft binnen kürzester Zeit


umzubauen. Etliche Betriebe sind nach


mehr als 40 Jahren Planwirtschaft und dem


abrupten Schock der Währungsunion in


einer dramatischen Lage.


Sechs Menschen, die damals dabei waren,


erzählen hier ihre Geschichte. Für sie


alle markiert der April 1991 einen


Einschnitt: Treuhandchef Detlev


Rohwedder wird durch Terroristen der


Rote-Armee-Fraktion ermordet.


Maria Breitfeld-Markowski: Mein erster
Arbeitstag bei der Treuhand war der 2. April
1991, der Tag nach der Ermordung Detlev
Rohwedders. Ich kam in das Gebäude in der
Wilhelmstraße, die Treuhand war gerade erst
vom Alexanderplatz dorthin umgezogen, und
normalerweise ist so ein Haus nach einem
Umzug ja voller Gewusel, alles räumt und
macht, alle Wege sind neu, und alle wirken
sehr aufgeregt. An diesem Tag aber war es
ganz anders. Trauer hatte sich über das Ge-
bäude gelegt. Es war sehr ruhig, alle sprachen
leise. Die Leute waren fassungslos, dass ihr
Chef erschossen worden war.
Johannes Ludewig: Rohwedder hatte immer
eine große Zuversicht ausgestrahlt, das hat mir
sehr imponiert. Und er war kein oberfläch-
licher Typ, der hat sich wirklich in diese Auf-
gabe hineingekniet. Man braucht in bestimm-
ten kritischen Situationen solche Leute, die
Menschen zusammenbringen und einen La-
den zusammenhalten können. Ich nenne sie
Brückenbauer. Und bei der Treuhand fehlte
dieser Brückenbauer auf einmal.
Eckhard Netzmann: Vielleicht wäre einiges
anders gelaufen, wenn Rohwedder nicht er-
mordet worden wäre. Er kam aus der Indus-
trie, er wusste, wie Maschinenöl riecht. Der
war einfach ein Typ. Und ich glaube, sein An-
satz war schon, sehr viel mehr Ost-Betriebe zu
erhalten und weniger zu schließen. Sein Tod
war ein sehr großer Einschnitt.

Nachfolgerin von Detlev Rohwedder wird
Birgit Breuel, eine Politikerin, vormals
Finanzministerin in Niedersachsen. Im
Umgang eher zurückhaltend kühl. Sie wird
das Gesicht der Treuhand – die Härte
der Behörde verbinden von nun an viele
mit ihrer Person.

Johannes Ludewig: Es stand niemand Schlan-
ge, um Rohwedders Job zu übernehmen. Und
dass Birgit Breuel es dann gemacht hat, muss
man ihr hoch anrechnen. Ich glaube, dass sie,
auch als Mitglied des Vorstands, einfach ein

großes Pflichtgefühl empfand, nach Rohwed-
ders Tod in die Verantwortung zu gehen. Aber
die Rolle, die er als eine sehr besondere Per-
sönlichkeit mit persönlichen Erfahrungen in
der Sanierung großer Industriebetriebe in den
folgenden Jahren hätte spielen können, die
konnte sie naturgemäß nicht ausfüllen.
Maria Breitfeld-Markowski: Ich hatte mich
eigentlich für die Revisionsabteilung bewor-
ben, aber am besagten 2. April wurde ich
gleich zum Direktor Rechnungswesen ge-
bracht. Das war ein Herr Eilert. Der sagte so
etwas wie: Setzen Sie sich mal dort hinten hin,
das ist Ihr Zimmer. Ich hatte davor in West-
Berlin in der Revisionsabteilung einer Bank
gearbeitet. Also habe ich ganz naiv nach Hand-
büchern gefragt, weil ich so was aus der Bank
ja kannte. Da hatte man meterweise Hand-
bücher und Arbeitsrichtlinien. Aber die gab es
hier nicht. Und dann sagte dieser Herr Eilert
einen Satz, der war wirklich großartig: Sie ha-
ben doch einen Kopf zum Denken, und wenn
Ihnen eine Richtlinie fehlt, dann schreiben Sie
halt eine.
Helmuth Coqui: Ich erinnere mich an die Te-
lefone. Geräte so groß wie Blumenkästen, mit
einer Unzahl von Knöpfen dran. Aber die funk-
tionierten alle nicht. Am ersten Wochenende,
als ich wieder zu Hause in München war, bin
ich losgezogen und habe auf eigene Rechnung
ein paar Funktelefone gekauft. Die habe ich
dann am Montag mit nach Berlin genommen.
Das waren so riesige Dinger mit Antenne dran,
wir haben sie an die Bürofenster gestellt, damit
der Empfang einigermaßen ist. Auch das
Funknetz war ja überlastet. Aber so ging es
immerhin.
Brigitta Kauers: Ich hatte in der staatlichen
Plankommission der DDR gearbeitet, im Be-
reich langfristige Planung, und da wiederum
ausgerichtet auf die metallverarbeitende In-
dustrie. Meine Kollegen in der Plankommis-

sion haben sich vorgestellt, dass sie alle vom
Wirtschaftsministerium der Bundesrepublik
übernommen werden. Die Illusion hatte ich
nicht. Dann sah ich in der Zeitung eine Stel-
lenanzeige der Treuhand. Das sollte ja die An-
stalt sein, die treuhänderisch die Wirtschaft
der DDR, die Kombinate, in die Marktwirt-
schaft führen soll. Das war die Idee. Und da
wollte ich mitmachen. An meinem ersten Ar-
beitstag kam ich in die Abteilung Grundsätze.
Mein erster Auftrag war: Geh in die Staats-
bibliothek und lies mal nach, wie eigentlich
die alte Bundesrepublik mit ihren Bundes-
beteiligungen umgegangen ist. Im April 1990
wussten wir das noch nicht.
Eckhard Netzmann: Das Kombinat Kraft-
werksanlagenbau war eines der größeren der
ehemaligen DDR mit immerhin 45.000 Men-
schen. Wir waren für alle Kraftwerke ein-
schließlich Kernkraftwerken zuständig. Und
ich war auf einmal Vorstandsvorsitzender einer
Aktiengesellschaft mit einer Bilanz von zwölf
Milliarden Mark. Ich weiß noch, dass ich da-
mals eingeführt habe, dass sich die Belegschaft
an jedem ersten Montag im Monat trifft. Die
Menschen waren so aufgewühlt. Die ahnten,
dass nicht alles gut werden kann. Ich erinnere
mich, dass ich irgendwann in der Anfangszeit
gesagt habe: Lasst uns ehrlich sein, wir waren
bisher Monopolist, nur wir haben Kraftwerke
gebaut in der DDR, aber jetzt sind da Kon-
kurrenten wie Siemens oder ABB, und allein
das führt doch mathematisch dazu, dass wir
nur noch weit unter 50 Prozent des Marktes
für uns haben werden. Und das heißt, dass
weit über 50 Prozent von uns werden gehen
müssen.
Helmuth Coqui: Ich war Leiter der Niederlas-
sung Berlin, einer von 15 Außenstellen der
Treuhand. Wir hatten mehrere Tausend Betrie-
be unter uns – und die hatten praktisch alle
keine Kunden. Das war das Problem. Die In-
landsmärkte waren weggebrochen, die Leute
wollten plötzlich nur noch Westprodukte kau-

25


Fortsetzung auf S. 26


Maria Breitfeld-Markowski, gebürtige
Westdeutsche, war Mitarbeiterin der Treuhand-
Zentrale, Abteilung Finanzen

Johannes Ludewig, damals Chefberater von
Bundeskanzler Helmut Kohl

Eckhard Netzmann war Kombinatsdirektor
im VEB Kraftwerksanlagenbau

Helmuth Coqui, Manager aus dem Westen,
war Leiter der Treuhand-Niederlassung Berlin

Brigitta Kauers, gebürtige Ostdeutsche,
war Mitarbeiterin in der Treuhand-Zentrale,
Abteilung Grundsatz

Ken-Peter Paulin, Manager aus dem Westen,
war Treuhand-Direktor für Fahrzeugbau

Handelnde Personen:


19 9 3


19 9 3


19 91


19 9 4


D e z e m b e r 19 9 4


Birgit Breuel schraubt
medienwirksam das
Treuhand-Schild von der
Zentrale. Unter anderem
Namen arbeitet die Behörde
noch bis 2003 weiter

April 1991


Detlev Rohwedder,
seit wenigen Monaten
Chef der Treuhand,
wird von Terroristen
der RAF erschossen

Mai 1993


Wütende Demonstranten
bewerfen die Treuhand-
Zentrale in Berlin
mit Eiern und Tomaten

Juli 1993


Arbeiter des von der
Schließung bedrohten
Kalibergwerkes in
Bischofferode treten in
Hungerstreik


  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT N
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