Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1

V


olksfestzeit in Stuttgart. In diesen Tagen
ist es Brauch, dass sich die Jugend (zu der
wir ausdrücklich auch die erwachsenen Be-
trunkenen rechnen) in die Tracht, bisweilen auch
die Niedertracht der Dreißigerjahre kleidet, wenn
sie zum Feiern geht. Die Herren in Janker und
Lederhose, die Damen in Dirndl und Strickjacke,
dazu rasierter Nacken beim Herrn, eng geknüpf-
ter Zopf bei der Dame.
Da fügt es sich, dass auf der Bühne des Stutt-
garter Schauspiels derzeit Ödön von Horváths
Volksstück Die italienische Nacht gezeigt wird. Auch
dieses spielt während eines Volksfestes. Es zeigt, wie
eine süddeutsche Kleinstadt in den frühen Dreißi-
gerjahren des 20. Jahrhunderts in den Faschismus
kippt, und es spitzt diese Dynamik auf eine einzige
Festlichkeit zu, eben jene Italienische
Nacht, die von den demokratischen (in
Wahrheit aber tendenziell reaktionär
verhockten) Kräften des Ortes verbis-
sen gefeiert und von den Dorf-Faschis-
ten gestört wird.
Horváths Volksstück gilt in diesem
von mulmigen Wahlen im Osten über-
schatteten deutschen Herbst als »das
Stück der Stunde«, und es fällt auf, dass
der katalanische Regisseur Calixto
Bieito, ansonsten bekannt als ein Grob-
effektehascher mit Freude am Ausmalen des eigenen
finsteren Menschenbildes, es erstaunlich falb und
sachlich spielt: als sei Vergröberung der Gesichter
ins Fratzenhafte in diesem Fall kontraproduktiv. Er
will, dass wir uns in diesen Figuren wiedererkennen,
statt sie bloß zu verachten.
In diesem Bühnenbild des Horváth-Stücks,
welches uns nachglühende deutsche Vorzeit zeigt,
fand nun etwas ganz anderes statt. Nämlich die
Premiere einer Veranstaltungsreihe, die entschieden
in der ironischen Spätwelt spielt: Echt? Schmidt?
Show-Reihe der ehrlichen Worte.
Harald Schmidt, bis heute der beste Entertainer,
den das deutsche Fernsehen hatte, kehrt an den Ort
zurück, an dem für ihn alles begann: Hier, in Stutt-
gart, war er auf der Schauspielschule, mit begrenz-
tem Erfolg. »Ich habe 41 Jahre gebraucht, um allein

auf dieser Bühne zu stehen«, sagt er nun, »ohne –
wie heißt das? – Kollegen.« Diesen Moment kostet
er aus. Der Abend dient einerseits der Bewältigung
(oder Feier) von peinlicher persönlicher Vergangen-
heit und andererseits der Bewältigung tages-
politischer Zumutungen.
In den stehen gebliebenen Bierzeltkulissen der
Italienischen Nacht geht Schmidt umher, als sei er
ein Dozent, der uns anhand der Ruinen deutscher
Geschichte sein Weltbild erläutert. Er assoziiert
nicht frei, erweckt aber immer wieder auf geniale
Weise den Eindruck, dies sei seine Arbeitsmethode.
In Wahrheit, so sagt er selbst, gebe es keine Schlag-
fertigkeit, sondern nur gute Vorbereitung. Hier gilt
ein Satz von Rudi Carrell, den Schmidt voller Ehr-
furcht zitiert: »Damit du was ausm Ellenbogen
schütteln kannst, musst du vorher was
reingetan haben.« Bisweilen wirkt er wie
eine Figur von Thomas Bernhard, die
im letzten Monolog angekommen ist:
einer, der unsere Gegenwart als etwas
tief Vergangenes betrachtet und sie, aus
einem idealen Jenseits heraus, mit dem
Spott dessen übergießt, der halbwegs
heil hinübergekommen ist. Was den
Figuren in Bieitos Inszenierung der Ita-
lienischen Nacht noch bevorsteht, ist hier
schon, wie alles andere, was damals folg-
te, verschmerzt und verarbeitet: zum Pointen-
material eines Bildungsmelancholikers, der der
Nachwelt zugehört und uns in ihr begrüßt, als
wäre er ihr unsterblicher Honorarkonsul.
»Als ob es ein Morgen gäbe«, lautet das verwe-
gene Motto dieser Stuttgarter Schauspielsaison.
Schmidt kommentiert es so: »Ich kann Sie beruhi-
gen – es gibt ein Morgen. Ob Sie und ich dabei sind,
weiß man nicht.« Sollten wir alle aber in ein paar
Wochen noch wohlauf sein, könnten wir uns im
Stuttgarter Schauspielhaus wieder versammeln. Am


  1. Oktober findet dort der nächste Auftritt von
    Harald Schmidt, dem Mann mit dem magischen
    Ellenbogen, statt. Es wird am Ende wieder ein
    ziemlich guter Abend gewesen sein.


A http://www.zeit.deeaudio


Vorwelt trifft Nachwelt: Harald Schmidt macht am Stuttgarter Schauspielhaus


Comedy in den Kulissen eines Horváth-Stücks VON PETER KÜMMEL


Der magische Ellenbogen


Harald Schmidt,
nass gescheitelt in
Stuttgart

Im Londoner Nobelviertel Chelsea herrscht in
einem Luxushotel helle Aufregung. Es ist
immer noch Stress der besonderen Art, einen
Beatle zu betreuen: Ringo Starr präsentiert
sein Soloalbum »What’s My Name?«. Abends
wird er mit Paul McCartney der Premiere
einer Neuauflage des Beatles-Klassikers
»Abbey Road« beiwohnen. Alles muss schnell
gehen, die Audienzen sind zeitlich begrenzt.
Speed-Dating mit einem Beatle also.

Ringo Starr: Von woher sind Sie angereist?
DIE ZEIT: Aus Hamburg.
Starr: (auf Deutsch) Wie geht’s, du? Zwei Eier
und Bratkartoffeln! Das waren die ersten zwei
Sätze Deutsch, die ich damals gelernt hatte, da-
mit ich etwas zu essen bestellen konnte.
ZEIT: Haben Sie noch Freunde in Hamburg?
Starr: Nein, nicht in Hamburg, mein Freund
dort, Klaus Voormann, ist weggezogen. Letztes
Jahr bin ich mit ihm noch in Hamburg über die
Große Freiheit spaziert. Aber da erinnert nichts
mehr an früher. Gut, nicht alles ist verschwun-
den; der Kaiserkeller ist noch da. Die Welt ändert
sich eben. Die King’s Road sieht auch nicht mehr
so aus wie in den Sechzigern.
ZEIT: Wie viele echte Freunde haben Sie?
Starr: Nicht Kumpels, sondern Freunde? Nicht
viele. Vielleicht zwölf. Klaus ist einer davon.
ZEIT: Sie sind 79 Jahre alt und scheinen mehr
denn je zu arbeiten: Sie haben gerade ein neues
Soloalbum sowie einen biografischen Bildband
veröffentlicht und gehen mit Ihrer All Starr Band
regelmäßig auf Tournee. Wie lange halten Sie es
aus, einfach mal nichts zu tun?
Starr: Stimmt, dieses Jahr war ich sogar zweimal
auf Tournee. Dennoch finde ich Zeit zum Ent-
spannen. Ich verbinde das eben.
ZEIT: Ihr Geburtsname ist Richard Starkey.
Nennt Sie eigentlich noch jemand Richard?
Starr: Die Familie! Gut, meine Kinder nennen
mich Dad, und meine Frau Barbara nennt mich
auch nicht Ringo, sondern Richard oder Ritchie.
ZEIT: Sind Sie als öffentliche Person Ringo und
im Privaten Richard?
Starr: Schwierig, eigentlich ja, dennoch habe ich
auch gute Freunde, die mich Ringo nennen.
Letztlich bin ich wie ein Hund. Rufen Sie mich –
und schon komme ich.
ZEIT: Ihr Spitzname Ringo ist auf Ihre Vorliebe
für Ringe zurückzuführen. Haben Sie noch die
Ringe, die Sie zu Beatles-Zeiten trugen?
Starr: Ich habe sie noch alle. Ich trage nicht mehr
so viele wie früher, bis auf diesen hier. (zeigt auf

einen schmalen kupferfarbenen Ring an seiner rech-
ten Hand) Es ist mein ältester Ring, der Hoch-
zeitsring meines Großvaters. An dem hänge ich
besonders, weil ich von meinen Großeltern und
meiner Mutter aufgezogen worden bin. Mein
Vater hat uns verlassen, als ich drei war. Seit ich
denken kann, trage ich diesen Ring und nehme
ihn niemals ab. Nie!
ZEIT: Was wäre aus Ihnen geworden, wenn Sie
nicht zur Musik gefunden hätten?
Starr: Seit ich 13 war, wollte ich professioneller
Schlagzeuger werden. Der Plan ging natürlich
nicht sofort auf, sodass ich tagsüber bei der Bahn,
am Hafen und in Fabriken arbeitete. Nachts
spielte ich Schlagzeug bei vielen Bands, bis ich
irgendwann bei Rory Storm and the Hurricanes
landete, die sehr erfolgreich waren. 1960 hatten
wir ein dreimonatiges Engagement in einer Fe-
rien an la ge in Wales bekommen, das so gut be-
zahlt wurde, dass ich meinen Fabrikjob kündigen
konnte. Und meine ganze Familie sagte: Bist du
verrückt geworden? Aber ich erwiderte: »Nein,
ich bin jetzt Musiker von Beruf!« Ein paar Jahre
später wollte mich dann diese andere Band.
ZEIT: Erinnern Sie sich an den Tag, an dem
Beatles-Manager Brian Epstein Sie anrief?
Starr: Sehr genau sogar, weil das ziemlich lustig
war. Brian rief an und sagte: (imitiert Epsteins
Stimme) »Ey, Ringo, die Jungs wollen, dass du bei
der Band einsteigst.« Und ich erwiderte: »Toll!« –
Ich liebte sie ohnehin, wir hatten uns in Deutsch-
land ziemlich gut kennengelernt – »Wann soll ich
anfangen?« Es war ein Mittwoch, und Brian sag-
te: »Heute Nacht!« Ich sagte: »Heute Nacht geht’s
nicht, ich bin noch in einer anderen Band. Aber
ab Samstag wäre ich am Start.« Also stieg ich an
einem Samstag mit einem Konzert im Cavern
Club bei den Beatles ein.
ZEIT: Was war Ihr Einstiegsgehalt?
Starr: 25 Pfund in der Woche, was ziemlich viel
war. In Hamburg musste ich mein Einkommen
noch aufbessern, indem ich Schuhe verkaufte.
ZEIT: Schuhe?
Starr: Schuhe! Ich brachte aus England regelmä-
ßig einen Koffer voller Schuhe mit. Auf spitze
englische Schuhe waren alle auf St. Pauli scharf.
Ich verkaufte sie für 40 Mark pro Paar.
ZEIT: Sie haben den Song Money, den Sie bereits
mit den Beatles eingespielt hatten, für Ihr Album
erneut aufgenommen. Warum?
Starr: Ich wollte schon immer meine eigene Ver-
sion davon machen. Der Song sollte einfach ener-
giegeladener klingen. Und letztlich hatte ich ein-
fach Spaß damit. Nur darum geht es mir noch.

»Ich habe tatsächlich geweint«


Ringo Starr, der Schlagzeuger der Beatles, ist im Juli 79 Jahre alt geworden und hat soeben ein neues Soloalbum präsentiert. Ein Gespräch über


seine frühen Jahre, über Altersunruhe und seine Gefühle, als er die Stimme John Lennons auf einer alten Demoaufnahme hörte


Ringo Starr, der


Fotos: Frédéric Dugit/MAXPPP/dpa; Björn Klein (u.) Schlagzeuger der Beatles


ZEIT: Ein Song des neuen Albums, Grow Old
With Me, basiert auf einer kaum bekannten
Demo aufnahme John Lennons. Paul McCartney
spielt bei Ihrer Version Bass und singt. Für die
Streicherarrangements haben Sie sich von George
Harrisons Here Comes the Sun inspirieren lassen.
Ist das Ihre Idee einer Beatles-Reunion?
Starr: Irgendwie nein und irgendwie doch. Mit
Paul arbeite ich regelmäßig, er war bislang auf
fünf meiner Platten dabei. Zuletzt standen wir
sogar bei einem Konzert im Dodger-Stadion in
Los Angeles für ein paar Songs gemeinsam auf der
Bühne. Wir sind immer Kumpel gewesen. Für
mich ist Paul der allerbeste Bassist, der melo-
dischste und musikalischste Bassist der Welt. Und
den einen oder anderen brauchbaren Song hat er
obendrein geschrieben. Ich erzählte Paul von dem
mir unbekannten John-Song, und er kam zu mir
nach L. A.
ZEIT: Angeblich sollen Ihnen beim Singen des
Songs die Tränen gekommen sein.
Starr: Nicht beim Singen, aber ich habe tatsächlich
geweint, als ich der Kassette mit Johns Demoauf-
nahme lauschte und hörte, wie John mich da er-
wähnt. Er sprach quasi auf dieser Kassette mit mir,
sagte: (ahmt John Lennons Stimme nach) »Das ist
ein Song, der gut für Richard Starkey wäre. Ringo!
Dieser hier wäre toll für dich.« Es ist nun schon so
lange her, seit John von uns gegangen ist ...
ZEIT: Wo haben Sie von seinem Tod erfahren?
Starr: Ich war auf den Bahamas, als mich meine
Kinder anriefen und sagten, dass John etwas zu-
gestoßen sei. Ich bin dann mit Barbara nach New
York geflogen. Wir wussten doch auch nicht, was
wir tun sollten.
ZEIT: Begegnen Sie John oder George manchmal
noch in Ihren Träumen?
Starr: Ja. John schreit mich da immer an. (Geläch-
ter – Ringo erhebt sich) Peace and Love!
ZEIT: Welchen Rat würde der alte Ringo dem
jungen Ringo geben?
Starr: Spiel einfach immer weiter, egal was passiert.
Wie hätte ich ahnen können, dass diese Geschichte
mal so groß werden würde! Ich wusste doch nicht,
dass das die größte Band der Welt werden könnte.
Ich wusste immer nur, dass ich einfach spielen will.
Und das tue ich immer noch. Ich sage den Kids,
die jetzt anfangen, dass sie nicht zu viele Unter-
richtsstunden nehmen sollten, sondern einfach
spielen sollen. So bin ich der Fabrik entkommen
und habe einen besseren Job gefunden. Aber nun
muss ich wirklich weiter, mein Freund.

Das Gespräch führte Christoph Dallach



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