Süddeutsche Zeitung - 08.10.2019

(Marcin) #1
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Berlin – Die vom Europäischen Gerichts-
hof im Juni gekippte Pkw-Maut bereitet
Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer
(CSU) immer größere Probleme. In einem
Brief werfen die Grünen ihm nach Informa-
tionen derSüddeutschen ZeitungBlockade
bei der Aufklärung des Debakels vor.
Scheuer wolle dem Bundestag offenbar ge-
zielt Informationen über brisante Treffen
mit den Mautbetreibern „vorenthalten“,
schreiben die Grünen-Sprecher für Finan-
zen und Verkehr, Sven-Christian Kindler
und Stephan Kühn, in einem Brief an
Scheuer. Der Minister müsse mit seiner
„Verschleierungstaktik aufhören“. Die Grü-
nen lassen ihm dafür allerdings nur wenig
Zeit. Bereits an diesem Dienstag soll Scheu-
er dem Bundestag bis 12 Uhr die noch offe-
nen Fragen beantworten und fehlende Do-
kumente liefern.
Es geht im Kern vor allem um einen bri-
santen Punkt: Nach Informationen von In-
sidern sollen führende Vertreter der Betrei-
berfirmen Scheuer im vergangenen Jahr
mindestens bei einem Treffen vorgeschla-
gen haben, die Unterzeichnung der Maut-
verträge auf einen Zeitpunkt nach dem er-
warteten EuGH-Urteil zu verlegen. Scheu-
er soll dies unter Verweis auf den straffen
Zeitplan für das CSU-Prestigeprojekt abge-
lehnt haben. Das Ministerium schloss die
Mautverträge noch einen Tag vor Silvester
ab – lange bevor der EuGH im Juni die um-
strittenen Pläne stoppte. Weil die Betrei-
ber da bereits den Aufbau des Systems vor-
antrieben, drohen dem Steuerzahler nun
hohe Schadenersatzforderungen. Insider
gehen von 700 Millionen Euro aus, die die
Firmen CTS Eventim und Kapsch der Bun-
desregierung in Rechnung stellen könn-
ten.
Die Grünen fordern nun per Ultimatum
die Übermittlung von Vermerken, Protokol-
len und Gesprächsnotizen dieser Treffen.
Und sie wollen von Scheuer wissen, was ge-
nau die Firmen dem Ministerium angebo-
ten haben. Scheuer hatte im Bundestag be-
reits im Juni volle Transparenz angekün-
digt und der Opposition Einblick in die
Maut-Unterlagen versprochen. Doch Hin-
weise auf die Treffen fanden die Abgeord-
neten dabei nicht. „Nach erneuter Durch-
sicht der (...) Dokumente zur Pkw-Maut
fällt auf, dass keines der beiden Treffen
protokolliert oder in irgendeiner Art und
Weise dokumentiert wurde“, kritisieren
die Grünen-Politiker in ihrem Brief an
Scheuer.
Wegen des eskalierenden Streits wird
ein Untersuchungsausschuss im Bundes-
tag derzeit immer wahrscheinlicher. Grü-
ne, FDP und Linke haben sich im Kern dar-
auf verständigt, ein solches Gremium zu
beantragen. Noch im Oktober könnte dar-
über die finale Entscheidung fallen. Be-
reits in einigen Wochen könnte ein solcher
Ausschuss seine Arbeit aufnehmen. Er soll
etwa klären, welche finanziellen und politi-
schen Verpflichtungen und Risiken die
Bundesregierung im Zusammenhang mit
der geplanten Einführung der Pkw-Maut
eingegangen ist – und ob der Bundestag
umfassend und zutreffend unterrichtet
wurde. markus balser

von christian zaschke

New York – Es sind unruhige Tage für den
US-Präsidenten Donald Trump. Nicht nur
betreiben die Demokraten auf Hochtouren
die Vorbereitungen eines Amtsenthe-
bungsverfahrens, was ihn seit geraumer
Zeit in Rage versetzt. Nun ist am Montag
auch noch die Klage zurückgewiesen wor-
den, die er eingereicht hatte, um seine Steu-
erunterlagen nicht offenlegen zu müssen.
Der Bezirksstaatsanwalt von Manhattan,
Cyrus Vance, hatte Trumps Steuererklä-
rungen angefordert, weil er wegen Schwei-
gegeldzahlungen während des Wahl-
kampfs im Jahr 2016 ermittelt. Trump hat-
te damals unter anderem der Pornodarstel-
lerin Stormy Daniels Geld bezahlt, damit
sie nicht über eine angebliche Affäre aus
dem Jahr 2006 spricht.

Trump hatte die Herausgabe der Unter-
lagen verweigert und geklagt. Unter ande-
rem argumentierten seine Anwälte, dass
ihm durch die Herausgabe „irreparabler
Schaden“ entstehe und er in seiner Arbeit
als Präsident beeinträchtigt werde. Der
Richter Victor Marrero folgte der Argumen-
tation nicht und wies die Klage zurück.
Staatsanwalt Vance könnte demnach die
Herausgabe der Steuererklärungen for-
dern. Allerdings haben Trumps Anwälte
noch am Montag beim Berufungsgericht
beantragt, dass der Fall einstweilen auf Eis
gelegt wird. Es ist davon auszugehen, dass
sich die Angelegenheit hinzieht.
Wie sehr Trump den beständig wachsen-
den Druck spürt, lässt sich nicht zuletzt an
seinem Twitter-Konto ablesen. Bereits
früh am Montagmorgen setzte er die ers-
ten wütenden Botschaften ab, nachdem er
sonntags noch sehr spät getwittert hatte.
Es ging um alle möglichen Themen, in der
Hauptsache drehten sich seine Tweets je-
doch wie so oft darum, dass sein Telefonge-
spräch mit dem ukrainischen Präsidenten
Wolodimir Selenskij vom Juli dieses Jahres
absolut harmlos gewesen sei. Das sehen
die Demokraten anders. Sie sind der An-
sicht, dass Trumps Aufforderung an Se-
lenskij, gegen Joe Biden und dessen Sohn
Hunter zu ermitteln, ihnen gar keine ande-
re Wahl lässt, als ein Amtsenthebungsver-
fahren einzuleiten.
Dass Trump wütend ist, wird zudem dar-
an deutlich, dass er in großer Dichte herab-

würdigende Spitznamen benutzt. Selbst
Nancy Pelosi, die Sprecherin des Repräsen-
tantenhauses, firmiert in den präsidialen
Tweets mittlerweile mit einem Spitzna-
men, er nennt sie „Nervous Nancy“, die ner-
vöse Nancy. Allerdings wirkt Pelosi in die-
sem Verfahren alles andere als nervös.
Seitdem am Sonntag bekannt wurde,
dass es bezüglich des Telefongesprächs
mit Selenskij einen zweiten Whistleblower
gibt, ist der Druck auf Trump noch einmal
gestiegen. Die Affäre war ins Rollen gekom-
men, weil ein CIA-Mitarbeiter von mehre-
ren Quellen gehört hatte, dass Trump den
ukrainischen Präsidenten unter Druck ge-
setzt haben solle, damit dieser gegen die Bi-
dens ermittele. Darüber berichtete er in-
tern und machte von seinem Recht auf An-

onymität Gebrauch. Mark Zaid, der Anwalt
dieses CIA-Mitarbeiters, teilte nun mit,
dass er einen weiteren Whistleblower ver-
trete, der über unmittelbares Wissen be-
züglich des Vorgangs verfüge, was wohl be-
deuten soll, dass er bei dem Telefonge-
spräch dabei war. Ungefähr ein Dutzend
Personen sollen zugehört haben, als
Trump mit Selenskij sprach. Nicht be-
kannt ist allerdings, wie viele Personen
während des Gesprächs tatsächlich im glei-
chen Raum wie der Präsident waren.
Das Weiße Haus betonte, das Auftau-
chen eines weiteren Whistleblowers ände-
re nichts daran, dass Trump sich nichts ha-
be zuschulden kommen lassen. Trumps
Anwalt Rudy Giuliani nannte die Angele-
genheit auf Twitter eine „orchestrierte de-

mokratische Kampagne“ und schrieb da-
bei, wie auch sein Boss es gern tut, viele
Wörter komplett in Großbuchstaben.
Die Demokraten treiben derweil die Er-
mittlungen voran. In dieser Woche wollen
sie mit zwei Diplomaten sprechen: zum ei-
nen mit Marie Yovanovitch, die in diesem
Jahr als Botschafterin in der Ukraine abbe-
rufen wurde, zum anderen mit Gordon
Sondland, dem US-Botschafter bei der EU,
der sich zuletzt um die Beziehungen des
Weißen Hauses zur ukrainischen Regie-
rung gekümmert hatte. Sollte das Reprä-
sentantenhaus nach Abschluss der Ermitt-
lungen für eine Amtsenthebung stimmen,
müsste letztlich der Senat darüber befin-
den. In diesem Gremium haben Trumps
Republikaner die Mehrheit.

Wien – Österreichs Ex-Kanzler und
Wahlsieger Sebastian Kurz will auch in
einer neuen Regierung einen Schwer-
punkt auf die Bekämpfung illegaler
Zuwanderung legen. „Jetzt erleben wir
wieder eine sehr fragile Migration, ins-
besondere in der Türkei“, sagte der
Parteichef der konservativen Volkspar-
tei (ÖVP) am Montag. Die illegale Migra-
tion in Österreich und in Europa zu
stoppen, sei eines der konkreten Ziele,
mit denen er in die kommenden Sondie-
rungsgespräche gehen wolle. Acht Tage
nach der Nationalratswahl in Öster-
reich, aus der die ÖVP als stärkste Par-
tei hervorgegangen ist, hat Kurz von
Bundespräsident Alexander Van der
Bellen den Auftrag zu Regierungsbil-
dung erhalten.reuters

Wut in Großbuchstaben


Das drohende Amtsenthebungsverfahren macht US-Präsident Donald Trump sichtlich nervös.
Nun soll er auch noch seine Steuerunterlagen offenlegen – seine Klage dagegen hat ein Gericht zurückgewiesen

Tunis – In Tunesien hat die gemäßigte
islamistische Partei Ennahda nach An-
gaben von Umfrageinstituten die Parla-
mentswahlen gewonnen. Während das
amtliche Endergebnis noch aussteht,
schätzten mehrere Institute, dass En-
nahda rund 40 der 217 Sitze bekommen
könnte. Den Erhebungen zufolge kam
die Partei Qalb Tounes des inhaftierten
Präsidentschaftskandidaten Nabil Ka-
roui am Sonntag auf 33 bis 35 Sitze. Die
Wahlbeteiligung lag nach Angaben der
Wahlkommission bei nur 41 Prozent.
Das öffentliche Interesse liegt mehr auf
der Präsidentschaftswahl. Am 13. Okto-
ber folgt deren zweite Runde, für die
sich Karoui und der unabhängige Kandi-
dat Kaïs Saïed qualifiziert haben.dpa

Kabul – Bei einem Anschlag in der af-
ghanischen Stadt Dschalalabad sind
mindestens zehn Menschen getötet
worden, darunter ein Kind. Mindestens
27 Menschen seien verletzt worden,
teilte der Sprecher des Gouverneurs der
Provinz Nangarhar mit. Zunächst be-
kannte sich niemand zu der Tat. Der


  1. Oktober war der 18. Jahrestag der
    US-geführten Intervention in Afghanis-
    tan. 2001 hatten die USA ihren Militärein-
    satz gegen die Taliban begonnen. dpa


Madrid – Einen Tag nach seinem Sieg bei
den Parlamentswahlen hat der portugiesi-
sche Premierminister António Costa ange-
deutet, dass er weiterhin ein sozialisti-
sches Minderheitskabinett führen wolle.
Er setze dabei auf die Unterstützung der
vier Linksgruppen im neuen Parlament, de-
ren Forderungen er berücksichtigen wer-
de. Somit würde der Chef der Sozialisti-
schen Partei (PS) den Regierungskurs der
letzten vier Jahre fortsetzen: Sein Kabinett
wurde von zwei linksextremen Fraktionen
geduldet, dem neomarxistischen Links-
block (BE) sowie der Demokratischen Ein-
heitsunion (CDU), einem Zusammen-
schluss von Kommunisten und Grünen.
Hinzu kämen nun die vier Vertreter der
Tierschutzpartei (PAN) sowie ein Abge-
ordneter der links-grünen Gruppierung
Live (L).

Die PS hatte sich bei den Wahlen am
Sonntag um 4,3 Punkte auf 36,7 Prozent
der Stimmen verbessert; dies reichte für
106 der 230 Sitze im neuen Parlament, also
zehn weniger als die absolute Mehrheit.
Um 10,5 Punkte eingebrochen waren dage-
gen die Sozialdemokraten (PSD), die in Por-
tugal liberalkonservative Positionen ver-
treten: Mit 27,9 Prozent der Stimmen er-
reichten sie nur noch 77 Mandate; bislang
hatten sie die größte Fraktion gestellt. Die
linksextremen BE und CDU mussten leich-
te Verluste hinnehmen.
Allerdings war die Wahlbeteiligung auf
54,5 Prozent gesunken, weil die großen
kontroversen Themen gefehlt haben. Die
Sitzverteilung kann sich indes noch leicht
verschieben, weil vier Mandate Wählern in
Übersee und Briefwählern vorbehalten
sind; das Endergebnis wird somit erst für

Mitte der Woche erwartet. Einmalig in der
EU hat das linke Parteienspektrum somit
seine vorherrschende Stellung im Land
ausgebaut, die PS ist die erfolgreichste
Gruppierung aus der Parteienfamilie der
Sozialisten und Sozialdemokraten auf eu-
ropäischer Ebene. Allerdings mahnten Ver-
treter von BE und CDU noch am Wahl-
abend an, die Sozialausgaben weiter zu er-
höhen. Dies hatte Costa zwar zu Beginn sei-
ner Amtszeit getan, später aber die Sanie-
rung des Staatshaushalts zur Priorität er-
klärt. In Lissabon wird damit gerechnet,
dass für den Premierminister das Regieren
schwieriger werde, obwohl seine Partei
Stimmen dazugewonnen habe. Denn um
abgewanderte Wähler zurückzugewinnen,
würden die kleinen Linksgruppierungen
immer wieder auf Konfrontation zu Costa
setzen.

Den Sozialisten war bei den Wahlen der
Wirtschaftsaufschwung der vergangenen
Jahre zugutegekommen, der vor allem auf
einen Tourismusboom zurückzuführen
ist. Hingegen honorierten die Wähler am
Sonntag nicht die Warnungen der oppositi-
onellen Sozialdemokraten und Konservati-
ven vor einem Einbruch der Konjunktur,
falls Costa nicht entschlossener sparen las-
se als bisher. Dabei hatte sein Finanzminis-
ter Mário Centeno, der auch Vorsitzender
der Euro-Gruppe ist, durchaus die schwar-
ze Null zu seinem Ziel erklärt. Ihm war es
gelungen, bei Umfragen zur Wirtschafts-
kompetenz die Liberalen und Konservati-
ven einzuholen. Für die Mehrheit der Wäh-
ler zählte somit nicht mehr, dass es vor al-
lem die Schuldenpolitik der Sozialisten vor
einem Jahrzehnt war, die das Land in die
Krise gestürzt hatte. thomas urban

Wien – Kosovo steht vor einem einschnei-
denden Politikwechsel. Bei der vorgezoge-
nen Parlamentswahl haben sich die Wäh-
ler im jüngsten Staat Europas am Sonntag
von den bislang regierenden ehemaligen
Milizenführern abgewendet. Wahlsieger
wurden zwei bisherige Oppositionspartei-
en: die links-nationale Partei Vetëvendosje
(Selbstbestimmung), die mit rund 26 Pro-
zent der Stimmen auf den ersten Platz
kam, sowie die konservative Demokrati-
sche Liga Kosovos (LDK), die mit etwa
25 Prozent knapp dahinter landete. Vetë-
vendosje-Chef Albin Kurti kündigte an,
aus den beiden siegreichen Parteien trotz
ideologischer Unterschiede eine Regie-
rung bilden zu wollen.
Ihre Niederlage eingestanden hat die
Demokratische Partei Kosovos (PDK), die
vom Staatspräsidenten und früheren An-
führer der Kosovo-Befreiungsarmee UÇK
Hashim Thaçi dominiert wird. Seit der Un-
abhängigkeit Kosovos 2008 war die PDK in
allen Regierungen vertreten. Nun kam sie
mit rund 21 Prozent auf den dritten Platz,

und ihr Spitzenkandidat Kadri Veseli kün-
digte noch am Wahlabend den Gang in die
Opposition an. Als vierte Partei der albani-
schen Bevölkerungsmehrheit zieht die
Allianz für die Zukunft Kosovos (AAK) von
Ex-Premier Ramush Haradinaj mit knapp
zwölf Prozent ins Parlament ein. Haradinaj
war im Juli überraschend zurückgetreten,
nachdem er vom Kosovo-Sondergericht in
Den Haag vorgeladen worden war. Er sieht
sich ebenso wie andere frühere UÇK-Füh-
rer mit Vorwürfen wegen möglicher Kriegs-
verbrechen in den späten Neunzigerjahren
konfrontiert. Zehn Sitze im 120-köpfigen
Parlament sind für die serbische Minder-
heit reserviert. Hier dominiert die von Bel-
grad unterstützte Serbische Liste, auf die
rund 90 Prozent der serbischen Stimmen
entfielen.
Mit dem Wahlsieger Kurti, 44, und der
knapp dahinter liegenden LDK-Spitzen-
kandidatin Vjosa Osmani, 37, könnten
künftig zwei Vertreter einer neuen Genera-
tion die Geschicke Kosovos bestimmen.
Beide haben der Korruption den Kampf
angesagt, die sich unter den alten UÇK-Ka-
dern im gesamten Staatsaufbau eingenis-
tet hat. Kurti rief nun bei einer Siegesfeier
in der Hauptstadt Pristina seinen Anhän-
gern zu: „Wir haben die Republik vor der
Geiselnahme durch die Politik gerettet.“
Der frühere Studentenführer Kurti gilt
als unbestechlich und radikal. Er verbin-
det marxistische Grundsätze mit nationa-
listischer Rhetorik und fordert eine Vereini-
gung Kosovos mit Albanien. Früher präsen-
tierte er sich gern als Enfant terrible der
kosovarischen Politik. Die internationale
Gemeinschaft provozierte er mit Straßen-
protesten, bei denen es zu Gewalt kam. Im
Parlament zündeten seine Abgeordneten
Tränengasgranaten aus Protest. In jüngs-
ter Zeit gibt er sich allerdings gemäßigter.

Innenpolitisch erwarten die Menschen
in einem der ärmsten Staaten Europas
eine rasche Verbesserung der wirtschaftli-
chen und sozialen Lage. Neben dem Kampf
gegen Korruption und organisierte Krimi-
nalität wird sich Kurti um eine Justiz-
reform bemühen müssen. Außenpolitisch
steht vor allem ein Ausgleich mit Serbien
auf der Agenda. Zwei Jahrzehnte nach dem
Kosovokrieg und elf Jahre nach der einseiti-
gen Unabhängigkeitserklärung der frühe-
ren serbischen Provinz sind die Fronten im-
mer noch verhärtet. Seit 2018 liegt ein von
der EU initiierter Verhandlungsprozess
brach.
Kurti hatte sich im Wahlkampf grund-
sätzlich offen gezeigt für einen Dialog.
Serbiens Präsident Aleksandar Vučić er-
klärte noch am Wahlabend, dass er zu neu-
en Gesprächen unter der Bedingung bereit
sei, dass die in Kosovo 2018 vom früheren
Premierminister Haradinaj verhängten
Zölle auf serbische Güter in Höhe von
100 Prozent wieder aufgehoben werden.
Vom Tisch sein dürfte unter neuer koso-
varischer Führung der Plan eines Gebiets-
tausches, der von Vučić und dem kosovari-
schen Präsidenten Thaçi aufgebracht wor-
den war. Neue Anstöße von Seiten der EU
werden nötig sein.
Auch die USA haben ein verstärktes En-
gagement signalisiert. Präsident Donald
Trump ernannte dazu jüngst seinen Bot-
schafter in Deutschland, Richard Grenell,
zum Sonderbeauftragten für den Dialog
zwischen Serbien und Kosovo.
peter münch  Seite 4

Berlin/Luxemburg – Nach dem Treffen
auf Malta im September hatte Bundesin-
nenminister Horst Seehofer (CSU) noch Op-
timismus verbreitet: er glaube, dass sich
„Zwölf bis 14 Mitgliedstaaten“ an einem
Notfallmechanismus zur Verteilung von
aus Seenot geretteten Migranten beteili-
gen würden. An diesem Dienstag will See-
hofer bei einem Treffen der EU-Innenmi-
nister in Luxemburg nun noch einmal um
Unterstützer für die von Deutschland,
Frankreich, Malta und Italien erdachte Ver-
einbarung werben, aber der Optimismus
dürfte inzwischen dahin sein: In Brüssel
glaubt kaum noch jemand, dass am Diens-
tag tatsächlich ein Durchbruch gelingen
könnte. „Da werden kaum mehr als eine
Handvoll Länder zusammenkommen“,
sagt ein EU-Diplomat.

Die Gründe für das Zögern der anderen
Mitgliedstaaten sind vielfältig: So stand
die zentrale Mittelmeerroute über Italien
und Malta zwar lange im Fokus der Öffent-
lichkeit – nicht zuletzt dadurch, dass der
frühere italienische Innenminister Matteo
Salvini den Booten privater Seenotretter
die Einfahrt in italienische Häfen verbot
und damit menschliche Dramen an Bord
der Boote in Kauf nahm. Tatsächlich aber
ist der Druck auf der westlichen Route
über Spanien und vor allem im Osten über
Griechenland deutlich größer.
Vor allem die Anrainerstaaten dieser
Routen werben darum für eine Lösung, die
allen Mittelmeerländern der EU zugute

kommt. Griechenland, Zypern und Bulgari-
en wollen bei dem Mittagessen am Diens-
tag ein eigenes Papier vorlegen: „Obwohl
alle Untersuchungen darauf hindeuten,
dass die Ankunftszahlen auf der östlichen
Mittelmeerroute steigen, wurden die Be-
lange dieser Route nicht ausreichend in
den Blick genommen“, heißt es darin. In
dem Papier fordern die drei Länder einen
Verteilmechanismus für die Migrations-
ströme auf allen Mittelmeerrouten, und
Unterstützung für jene Länder, die von der
Situation besonders betroffen sind. „Die

Haupt-Ankunftsländer sind Spanien und
Griechenland, und für diese Länder wird
keine Lösung gefunden“, sagt auch der grü-
ne Europaabgeordnete Erik Marquardt.
„Daran merkt man, dass es hier eher um
Symbolpolitik geht, als darum, die tatsäch-
lichen Notlagen zu lösen.“
Andere Länder haben sich noch nicht so
klar positioniert – sie wollen nur mitma-
chen, wenn genug weitere Länder auch da-
zu bereit sind. Bis jetzt aber hat kein einzi-
ges EU-Mitgliedsland seine Zusage zu der
Vereinbarung angekündigt. Mancher Beob-

achter hält es sogar für möglich, dass sich
daran auch nichts mehr ändert.
Der Regierungswechsel in Italien dürfte
zusätzlich dazu beigetragen haben, dass
manche EU-Länder weniger Handlungs-
druck empfinden als vor einigen Monaten.
Am Montag vermeldeten etwa die Seenot-
retter der „Ocean Viking“, die italienische
Küstenwache habe sie gebeten, sich an ei-
ner Rettungsaktion vor Lampedusa zu be-
teiligen – undenkbar unter Salvini.
Auch in Berlin war man am Montag be-
müht, die Erwartungen an das Treffen zu
dämpfen – und Ärger zu vermeiden. Nie-
mand wolle Druck auf andere EU-Staaten
ausüben, sofort einem festen Verteilungs-
mechanismus zuzustimmen, betonte ein
Sprecher von Seehofer: „Es geht darum, zu
werben und Unterstützung zu finden.“
Selbst das Ziel, zu einem festen Verteilungs-
schlüssel zu kommen, wird im Ministeri-
um jetzt vorsichtig aufgeweicht. Seehofer
hatte angeboten, Deutschland könne je-
den vierten Flüchtling aufnehmen, der von
Italien oder Malta gerettet wurde. Aus der
Union kam scharfe Kritik. Und auch man-
che EU-Nachbarn reagierten skeptisch.
„Ob es am Ende auch Quoten gibt, ist of-
fen“, sagte der Sprecher nun. Man versu-
che zunächst, möglichst viele Staaten für
die Idee zu gewinnen. „Da muss man natür-
lich auch noch Beweglichkeit zeigen.“
Die Chance auf einen Durchbruch am
Dienstag ist also mau. Das Unterfangen,
die Verteilung der aus Seenot geretteten
Migranten gemeinsam zu verteilen, wer-
ten Beobachter in Brüssel dennoch als Er-
folg: „So konstruktiv wie in den vergange-
nen Wochen haben wir schon lange nicht
mehr über das Thema gesprochen“, sagt
ein Diplomat. k.m. beisel/c.v.bullion

(^6) POLITIK Dienstag, 8. Oktober 2019, Nr. 232 DEFGH
Opposition setzt
Scheuer letzte Frist

Grüne fordern rasche Aufklärung
in Affäre um gekippte Pkw-Maut
Italien stand lange im Fokus,
dabei ist der Druck auf den
anderen Routen deutlich größer

Albin Kurti kann mit dem Auftrag zur Re-
gierungsbildung rechnen. FOTO: AP
Italien, und dann? Aus Seenot gerettete Migranten an Bord derOcean Viking, bei der
Einfahrt in den Hafen von Messina. FOTO: RENATA BRITO/AP
Wie sehr Trump den wachsenden
Druck spürt, lässt sich an seinem
Twitter-Konto ablesen

US-Präsident Trump betont es wieder und wieder: Sein Telefongespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskij sei
absolut harmlos gewesen. Doch nun könnte ihn ein weiterer Whistleblower belasten. FOTO: EVAN VUCCI/AP
Früher präsentierte Kurti sich
gern als Enfant terrible der Politik
Gemäßigte Islamisten siegen
Regierungsauftrag für Kurz
Anschlag in Afghanistan
Triumph der Linken

In Portugal hat Premier Costa die Wahlen gewonnen. Seine sozialistische Politik ist auf europäischer Ebene beispiellos
Absage
an Korruption

Oppositionsparteien gewinnen
Parlamentswahl in Kosovo
AUSLAND
Das Zögern der anderen
Die Chancen auf einen europäischen Notfallmechanismus zur Verteilung geretteter Migranten schwinden
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