National Geographic Germany - 10.2019

(vip2019) #1
Weil ihnen das Aufstehen und Hinlegen

schwerfällt und sie auf dem Boden wehrlos


sind, schlafen Giraffen nur immer ein paar


Minuten. Sie halten es wochenlang ohne Trin-


ken aus. Ihnen reicht die Feuchtigkeit, die sie


aus den Blättern saugen.


Zum Trinken muss die Giraffe die Beine so

weit spreizen, bis sie in der Lage ist, den Hals


ungelenk in ein Wasserloch zu halten. Wenn


man sieht, dass die Befriedigung eines Grund-


bedürfnisses so viel Umstände macht, kommt


man schon ins Grübeln, ob die alte Frage,


warum Giraffen so einen langen Hals haben,


überhaupt berechtigt ist. Müsste sie nicht viel-


mehr lauten: Warum ist der Hals im Verhältnis


zu den langen Beinen so kurz?


DASS GIRAFFEN geborene Baumschnittkünstler


sind, steht hingegen fest. Sie fressen die Aka-


zien in eine Sanduhrform. Die Bäume fächern


erst über der „Äsungshöhe“ aus. Denn dorthin


kommen die Tiere trotz des langen Halses und


ausgestreckter Zunge nicht. Angesichts ihrer


Pflückkünste liegt es nahe, dass sich der lange


Hals der Giraffen im Laufe der Evolution he-


rausgebildet hat, um eine Futternische aufzu-


tun, die für kürzere Spezies nicht erreichbar ist.


Andere Forscher haben jedoch die These auf-

gestellt, dass der lange Giraffenhals mit der


sexuellen Selektion zu tun hat. Demnach hat er


die Funktion, dass die Bullen wirkungsvoller


mit ihren dickknochigen Schädeln zuschlagen


können, wenn sie um eine paarungsbereite


Giraffenkuh konkurrieren. Vielleicht dient der


lange Hals der Giraffe aber auch nur dazu, dem


relativ wehrlosen Tier einen guten Ausblick zu


gewähren, damit es nach Raubtieren Ausschau


halten kann.


Ohne Zweifel besteht auch eine Verbindung

zwischen ihrem langen Hals und ihrem


gespenstischen Schweigen. Giraffen geben fast


nie einen Laut von sich. Sie kommunizieren


nicht mit irgendwelchen Audiosignalen, die für


menschliche Ohren hörbar sind. Dieses Schwei-


gen ist außergewöhnlich, wenn man bedenkt,


dass Giraffen soziale Wesen sind, die in soge-


nannten Fission-Fusion-Verbänden leben. Das


bedeutet, einzelne Tiere finden sich zu Grup-


pen zusammen, die sich nach einiger Zeit wie-


der auflösen. Andere Arten mit Fission-Fusion-


Systemen, wie zum Beispiel Elefanten und


Schimpansen, sind äußerst gesprächig. Ob


Giraffen zumindest in der Lage sind, wie Ele-


Diese Westafrikanische
Giraffe wird ins 800
Kilometer entfente
Gadabédji-Biosphären-
reservat in Niger
transportiert, um zum
Aufbau einer neuen
Population beizutra-
gen. Sie umfasst bereits
600 Tiere.

2016 KAMEN EXPERTEN ZU


EINER NEUEN ERKENNTNIS


ÜBER DIE GIRAFFEN:


GENTESTS LEGTEN NAHE,


DASS SIE NICHT BLOSS


EINE ART BILDEN, SONDERN


SICH IN VIER AUFTEILEN.


112 NATIONAL GEOGRAPHIC

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