Sie kommen schubweise, rempeln einander an
und achten nicht auf ihre Feinde: Geier, Wild-
hunde und hungrige Waschbären gieren nach
den Schildkröteneiern. Die Weibchen beginnen
zu graben, legen dabei auch Eier von Artgenos-
sinnen frei und zerstören sie, füllen die frischen
Löcher mit potenziellen Nachkommen und
kriechen schließlich wieder zurück ins Meer.
Im Morgengrauen kommen die Menschen.
Es scheint, als würden die barfüßigen Männer
einen seltsamen Stepptanz aufführen: Sie hüp-
fen behutsam auf Zehen und Fersen. Dabei
erspüren sie mithilfe ihrer Füße, wo die Erde
locker ist. Haben sie eine solche Stelle gefun-
den, hocken sie sich hin und graben, bis sie zu
den Eiern vorgedrungen sind. Anschließend
füllen Teenager und Frauen diese in Beutel.
Zu einer richtigen Ortschaft wurde Ostional
erst nach dem Zweiten Weltkrieg. In den Sieb-
zigerjahren lebten die Menschen hier vor allem
von den Schildkröten. Der Boden in der Umge-
bung eignete sich nicht für die Landwirtschaft,
und es gab wenige Arbeitsplätze. Also sammel-
ten die Bewohner die Schildkröten eier und füt-
terten damit ihre Schweine. „Schild kröten wa-
ren für uns nichts Besonderes, ebenso wenig
wie Hühner“, sagt Maria Ruiz Avilés, während
sie beim Beschriften der Beutel mit den Eiern
eine Pause macht.
DAS EINSAMMELN DER EIER wurde in Costa Rica
erstmals in den Siebzigerjahren untersagt, aber
das Verbot wurde kaum durchgesetzt. Am Ende
rieten Wissenschaftler zu einem gesteuerten,
legalisierten Handel im Inland. Während der
arribada kommen sehr viele Schildkröten, und
die graben weitaus mehr Nester, als am Strand
Platz haben. Auch ohne Wilderei wird bis zur
Hälfte der Eier am Strand zerstört, und zwar
vorwiegend durch andere Schildkröten. Die
Regierung Costa Ricas gestattet den wenigen
Hundert Einwohnern von Ostional daher, legal
einen Teil der Eier zu sammeln.
Heute gilt die Strategie von Ostional durch-
aus als Erfolg: Die Bewohner entnehmen eine
geringe Zahl von Eiern, und indem sie den
Strand so von der Überzahl befreien, verhin-
dern sie nach Ansicht mancher Biologen, dass
Mikroorganismen weitaus mehr Eier töten. Von
dem Erlös werden Strandwächter bezahlt, und
die halten Wilderer fern. Jeder Verkauf ist
durch Dokumente bezeugt – damit wissen die
Käufer, dass sie legale Ware erwerben. Die be-
teiligten Bewohner vertreiben Raubtiere und
sorgen so dafür, dass die verbliebenen frisch
geschlüpften Schildkröten das Meer erreichen.
„Wir leisten gute Arbeit“, sagt Ruiz Avilés.
Allerdings heißt das nicht, dass Ostional
ohne Weiteres ein Mo dell für andere Regionen
ist. Die Nachfrage an Eiern beträgt hier nur
einen Bruchteil dessen, was beispielsweise in
Mexiko konsumiert wird. Außerdem bieten die
arribadas die Gelegenheit, aus dem Vollen zu
schöpfen, weil es die Überlebenschancen von
Jung schildkröten verbessern kann, wenn man
die Zahl der Eier reduziert. „Meiner Ansicht
Besserung ist nur in den Regionen in Sicht,
deren Bewohner verstanden haben, dass es sich
lohnt, die Schildkröten zu schützen. In Costa
Rica etwa. Dort ist ein Lieferwagen unterwegs,
beladen mit 80 großen Beuteln, die 96 000
Schildkröteneier enthalten. Hinter den Königs-
palmen schimmert der Ozean. Ein paar Kilome-
ter weiter hält das Fahrzeug an einem offenen
Schuppen. Männer entladen die empfindliche
Fracht und legen sie auf einen Sortiertisch.
Frauen verteilen die Eier auf kleinere Beutel.
Wenig später werden sie abermals verpackt und
an Restaurants oder Bars verkauft, bis hin zur
weit entfernten Hauptstadt San José. Das alles
ist hier vollkommen legal – und es könnte den
Schildkröten am Ende helfen.
Der Strand von Ostional an der nordwest-
lichen Pazifikküste Costa Ricas wird jeden
Monat zum Schauplatz eines spektakulären
Massen-Nist ereignisses. Es ist unter dem Na-
men arribada bekannt. Meist, so auch heute
Morgen, beginnt es in der Dunkelheit. Zu Tau-
senden sammeln sich weibliche Oliv-Bastard-
schildkröten vor der Küste. Ihre Silhouetten
zeichnen sich vor dem Sternenhimmel ab.
Irgendwann, wie auf ein rätselhaftes Kom-
mando, drängen sie plötzlich Richtung Strand.
ES SCHEINT, ALS WÜRDEN
DIE BARFÜSSIGEN MÄNNER
EINEN SELTSAMEN STEPPTANZ
AUFFÜHREN: SIE HÜPFEN
BEHUTSAM AUF ZEHEN UND
FERSEN. DABEI ERSPÜREN
SIE MITHILFE IHRER FÜSSE,
WO DIE ERDE LOCKER IST.
MEERESSCHILDKRÖTEN 81