Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

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BELLETRISTIK


DIE ZEIT 42/19

D


ie Hauptfigur dieses
Romans aus dem
Reich der Toten ist
ein Toter. Genauer,
ein frisch Verstorbe­
ner, der noch ein
bisschen über seiner
alten Heimat, Westberlin, herumschwirrt
und sich dabei mit ontologischen Fragen be­
schäftigt: Ist die Seele noch, wenn der Leib
unter einem Grabstein verrottet? Kann man
als Toter in Verbindung zu seinem alten Le­
ben stehen, wenn man mit keinem mehr Ver­
bindung aufnehmen kann? Beschrieben wird
hier ein Aufbruch ins Reich des Unerzähl­
baren. Gedacht, gefühlt und geschwätzt wird
allerdings in dieser Jenseitsspekulation nach
alter Väter Sitte: auktorial.
Wie schon sein Vorgänger, Das Pfingst-
wunder, will dieser neue Roman von Sibylle
Lewitscharoff hoch hinauf. Hinauf zum
Göttlichen, mindestens Seraphischen, ge­
würzt, wie immer, mit dem Idiom der
Autorin aus Stuttgart­Degerloch. Und der
Titel des Romans zeigt es an: Von oben
wird auch erzählt. Der Tote, erfährt man,
war Professor für Philosophie an der FU.
»War ich Kantianer oder Hegelianer oder
vermessener Wittgenstein­Faselant, der das
Dörrfleisch von dessen kargen Sätzen mit
der eigenen Spucke wässerte?«
Ein wiederkehrendes Problem dieses
Buchs: Es wird ständig etwas evoziert, ohne
dass recht deutlich würde, zu welchem
Zweck. Die Kritikerin Kristina Maidt­
Zinke hat für Lewitscharoffs Prosa eigens
das Genre des »metaphysischen Realismus«
erfunden. Weil eben beides in ihren Roma­
nen vorkäme: das Hochspekulative ebenso
wie das Schmutzrändchen unter unseren
Fingernägeln. Aber stimmt das? Ist ein Text
metaphysisch allein dadurch, dass er mit
metaphysischen Fragen kokettiert?
Im vorliegenden Text beispielsweise
meint der Verstorbene, die Stimme von Gott
persönlich zu hören. Allerdings dringen
nur verhackstückte Konsonanten und lang
gezogene Aaaaaaaas an sein Ohr. Zu allem
Übel: »Aussprache ziemlich feucht.« Das
muss Einbildung sein, denkt sich der Tote –
und erhält für diese »Frechheit« gleich eine

»metaphysische Kopfnuss«, denn »er sinkt
wieder oder trudelt und taumelt herab«.
Über die letzten Dinge wird Von oben
oft leider einfach nur so hingeplappert.
Dies und das über den Mond. Über Per­
golesi. Über Kaf ka. Über Heidegger und
das gerade »Zuhandene«. Einmal wagt sich
unser Toter in einen Sadomasoclub, was
ihn zu einem moralisierenden Exkurs über
Märtyrer animiert. Vom Dominagewerbe
geht es rüber zu den einundzwanzig Kop­
ten, denen der IS in Ägypten vor laufender
Kamera die Köpfe abgeschnitten hatte.
Damit tut der Text, als gäbe es eine innere
Verwandtschaft zwischen dem SM­Betrieb
und den Gräueltaten religiöser Fanatiker.
Lewitscharoff scheint zu ahnen, dass
das Unfug ist. Denn ihr Erzähler wirkt
nicht betroffen, sondern nur eifrig. Und wie
sieht es mit Lewitscharoffs oft gerühmter
Situationskomik aus? Dort, wo sie sich leut­
selig und umgangssprachlich gibt, kommt
meist verspannte Figurenrede heraus. Eine
Disco­Eroberung des Erzählers aus den
Siebzigern hat für ihn etwas »ungemein
Reizvolles«. Partygäste näseln einander zu:
»Dein Salat ist übrigens ausgezeichnet.«
Und vom tür kischen Gemüsehändler wird
erzählt, er habe »ausgezeichnete« Waren im
Angebot gehabt – sowie eine Tochter »wie
aus Tausendundeiner Nacht«. Warum? Weil
sich das für einen Orientalen so gehört?
»Warum bin ich so verschwätzt, warum
rede ich unablässig in die Leere hinein, aus
der heraus keiner antwortet«, fragt sich der
Held einmal. Die Antwort bleibt dem Le­
ser vorenthalten. Stattdessen gibt’s wieder
einen Bildungsjingle: »Mich erinnert das an
Franz Kaf kas Held K. im Process.«
Auch dieses Buch wird Kritikern wie­
der Lob für seine Gelehrsamkeit abringen.
Für die Rezensentin fühlte es sich an wie
eine »metaphysische Kopfnuss«, bei der sie
an Kafkas Strafkolonie denken musste.

Sibylle Lewitscharoff:
Von oben
Roman; Suhrkamp,
Berlin 2019; 240 S., 24,– €,
als E­Book 20,99 €

Zu hoch hinaus


Sibylle Lewitscharoff lässt eine tote Seele plappern und schreibt


einen angestrengten Roman über letzte, metaphysische Fragen


VON K ATHARINA TEUTSCH

MitreißenderzähltVo lker
Weidermannvon der wechsel-
vollen Fehde zwischen Grass
und Re ich-Ranicki. In dieser
Jahrhundertgeschichte wirfter
die großenFragen Nachkriegs-
deutschlands auf – nachWider-
stand, Schuld undVerdrängung.

Der Nobelpreis-


träger undder


Kritikerpapst


©Reto Klar


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