Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

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BELLETRISTIK


DIE ZEIT 42/19

DI E Z E IT: Frau Berg, in Ihrem Roman GRM
malen Sie uns eine düstere Zukunft aus: Sie er­
zählen, wie Großbritannien in einen futuris­
tischen Überwachungsstaat umgebaut wird, ein
Faschismus der Drohnen und Daten. Eine Dys­
topie haben das viele genannt. Können Sie mit
dem Wort etwas anfangen?
Sibylle Berg: Ich habe das Gefühl, mit dem
Etikett wollen Menschen, die ihr Haus oder
auch ihr Inneres kaum verlassen, die Realität
von sich weglabeln. Was heißt denn Dystopie?
Können Sie mir das mal ordentlich wie ein
Mensch erläutern?
Z E IT: Herr Dath, Sie schreiben selbst Science­
Fiction, außerdem erscheint Ihr Buch Nie­
geschich te, eine Theorie des Genres. Ob Marga­
ret Atwoods Fortsetzung zum Report der Magd
oder GRM: Warum spricht der Literaturbetrieb
gerade so gern über Dystopien?
Dietmar Dath: Leute, die immer Dystopie
sagen, neigen dazu, bei allem, was nicht Befind­
lichkeits­ oder Sozialkunde­Literatur ist, einen
Kunstzweck zu unterstellen: »Was wollen die
Bücher? Die Bücher wollen warnen und erzie­
hen.« Das reduziert alles auf Kinderliteratur.
Dazu kommt: Science­Fiction oder Dys to pie
definieren solche Leute nach Kriterien wie »Da
gibt’s Überwachung« oder »Da gibt’s Roboter«.
Nach Requisiten. Aber niemand würde sagen:
Der historische Roman ist was mit Rittern und

Nazis. Niemand würde sagen: Der psycholo­
gische Roman ist, wenn eine Frau weint.
Z E IT: Aber ...
Berg: Nicht ihn unterbrechen, jetzt rollt er
gerade so schön los! Mich ermüdet die mo­
mentane Dystopie­Labelf lut auch ein wenig.
Dystopie, der Renner der Saison, nur bedroht
von seinem kleinen hässlichen Bruder – dem
Coming­of­Age­Roman.
Z E IT: Herr Dath, warum gibt es Dystopien?
Dath: Man kann auf zwei Arten von einer Welt
erzählen, die es nur in einem Text gibt und die
man also nicht überprüfen kann. Die eine Art:
Du erklärst die Welt, aber dann wirst du auch
mal zwei Absätze lang Namen nennen und be­
schreiben, wie was funktioniert. Das muss
man so trocken machen wie Sibylle Berg in
ihrem Buch, damit das nicht nach Volkshoch­
schule klingt. Die andere Möglichkeit, wie ich
über etwas reden kann, das die Leute nicht
kennen: Ich mach es kaputt. Und habe dann
einen Grund, zu erklären, wie es funktioniert.
Wenn zwei Leute Auto fahren, wäre es seltsam,
wenn einer plötzlich zum anderen sagt: »Du
weißt ja, wir sind hier in einem Auto mit Ver­
brennungsmotor.« Aber wenn das Auto liegen
bleibt und qualmt und einer fragt: »Hey, woran
liegt das denn? Vergaser?«, dann hast du eine
Geschichte.
Z E IT: Eine Dystopie?

»Za h len


s i nd Wa f fen«


Die Zukunftsangst regiert, auch in der Literatur.


Dystopien sind Trend. Wir haben die Schriftstellerin


Sibylle Berg und den Science­Fiction­Autor Dietmar Dath


gefragt: Warum fürchten sich Künstler vor dem,


was kommt?


VON JENS BALZER UND LARS WEISBROD

Foto: Christian Grund für ZEIT Literatur
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