Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

DIE ZEIT 42/19 17


forderungen, die wir gerade erleben. Die digitale
Revolution mit der Möglichkeit unbegrenzter
Überwachung, die Naturkatastrophen, die
schwindenden Ressourcen, der blühende Fa-
schismus. Gelingt es mir, zwischen diesen Punk-
ten eine Verbindung herzustellen, auch wenn sie
eventuell falsch ist?
Z E IT: Ob eine Dystopie tatsächlich zutrifft,
spielt keine große Rolle?
Dath: Ob man Probleme wirklich hat, ist erst
mal egal. Ich lese ja auch gern ein altes Buch über
Probleme, die wir längst nicht mehr haben. Ich
lese aber auch gerne ein neues Buch über Proble-
me, die ich lange noch nicht habe. Das ist nicht
die Aufgabe von Science-Fiction: Probleme vor-
herzusagen. Oder Lösungen. Leute sagen zu
mir: »Hey, du bist doch Marxist, schreib doch
mal die Re vo lu tion auf, wie sie kommt.« Aber
das wäre als Buch Quatsch. Die Aufgabe ist eine
ganz andere, sprachliche: das vollständige
Deutsch zum Beispiel, nicht nur Innerlichkeits-
und Gemeinschaftskunde-Vokabular, sondern
auch technische Sprache.
Z E IT: Warum war die Literaturkritik so lange
so schlecht zu sprechen auf Science-Fiction?
Liegt es an mangelnder Psychologie? Dass die
Figuren oft nicht glaubwürdig sind?


Dath: Die Antwort auf diesen Unsinn steht bei
Joanna Russ, der besten Stilistin überhaupt in
der Geschichte der Science-Fiction. In ihrem
Roman Picnic on Para dise, 1968 erschienen,
wandern Touristen auf einem fremden Plane-
ten durch ein Bürgerkriegsgebiet. Die Touris-
ten sind alle komplette Idioten, sie bestehen
förmlich nur aus ihrem Psychologiegeschwätz.
»Meine Tochter ist unsicher, denn sie weiß
nicht, ob ich sie liebe«, blablabla. Außer einem,
ein Jugendlicher, er nennt sich »Maschine«.
Weil er mit alldem nichts zu tun haben will: Ich
bin eine Maschine, lass mich in Ruhe.
Berg: Das ist mein Satz! Ich sage immer: Ich bin
eigentlich ein Computer.
Dath: Und dieser Jugendliche sagt irgendwann:
Ich hab’s jetzt, ich glaube, die anderen reden des-
halb die ganze Zeit von Innenleben, weil sie
ahnen, dass sie gar keins haben. Das ist die Ant-
wort der Science-Fiction auf diesen Vorwurf.
Z E IT: Die Literaturkritik findet Science- Fiction
auch sprachlich selten überzeugend: Das ist ja
nur Thesenliteratur!
Dath: Nehmen wir mal Cixin Liu ...
Z E IT: ... Chinas neuen Science-Fiction-Star.
Dath: Der beschreibt die Schrecken der Kultur-
revolution an verschiedenen Orten gleichzeitig,

und er hat ein Bild dafür: Er schreibt, das sei wie
ein Parallelprozessor. Und dann sagt mir ein
Kollege von der Zeitung: Jaja, das Buch ist toll,
aber irgendwie so schlecht geschrieben, der emo-
tionale Rums fehlt. Für mich hat das aber enor-
men emotionalen Rums, wenn ich denke: Oh
Gott, ich bin in einem Parallelprozessor. Weil
mir die Metapher was gibt, weil ich mich für
dieses Zeug interessiere. Und wir wären eine
Ecke weiter, wenn die Literaturkritik ehrlich
sagen würde: Uns interessiert das einfach nicht.
Z E IT: Was ist aus dem utopischen Charakter
der Science-Fiction geworden? Man hat das
Gefühl, die Zukunft sei uns eigentlich abhan-
dengekommen.
Dath: Habe ich nicht.
Z E IT: Aber viele andere schon, oder?
Dath: Na ja, das ist, was aus sehr großen Laut-
sprechern ständig gesendet wird. In meinem
neuen Roman Neptunation geht es auch um
diese Fragen: Was ist eigentlich mit diesen gan-
zen alten Auf brüchen? Als ich jung war, habe ich
gedacht, wir wohnen jetzt auf dem Mars und
f liegen in Raketenautos.
Z E IT: Stattdessen haben wir Face book.
Dath: So läuft es immer: Die Achtundsechziger,
damals war noch fast Vollbeschäftigung, woll-

»Ich weiß nicht. Was erwartest


du denn von Menschen?


Die machen doch alle immer


das gleiche Zeug, die essen,


schlafen, ficken, sterben«


SIBY LLE BERG

Die Schriftstellerin Sibylle Berg kam in Weimar zur Welt und lebt
heute in Zürich. Im Frühjahr erschien ihr Roman »GRM«, der jetzt
auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises steht
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