Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

BELLETRISTIK


ten nie mehr arbeiten. Zack, kannste haben:
Hier kriegst du ganze Viertel, wo die Jugend­
lichen auf der Straße stehen, nie mehr arbeiten,
toll. Sexuelle Revolution, kein Problem, here is
your porn. Und Face book ist die perverse Reali­
tät, die aus dem Traum der Science­Fiction ge­
worden ist. Die alten Narren hatten noch gesagt,
dass wir zum Mars reisen, in den outer space.
Aber die neuere Science­Fiction hat schon in den
Achtzigern darauf geantwortet: Nein, ein riesi­
ger inner space erwartet uns.
Z E IT: Jetzt drehen wir uns in ewigen Retro­
Schleifen: Wir wiederholen nur die Popmusik,
die Filme, die politischen Ideen von früher.
Dath: Nein, es gibt einen Unterschied zwischen
Noch­nicht und Nicht­mehr. Klar, von dort, wo
ich stehe, scheint sich alles nur noch zu wieder­
holen. Aber ist nicht genau diese Sicht daran
beteiligt, uns ruhigzustellen? Weil man gar
nicht mehr bereit ist, sich überraschen zu lassen
davon, dass etwas, nur weil es wiederkommt,
noch lange nicht dasselbe ist. Weil es kein Kreis
ist, sondern eine Spirale. Das ist wie mit diesen
Algorithmen, die sagen: Mit 15 hat er die Bravo
Hits-CD gekauft, mit 16 die nächste und mit 17
wieder, und darum wird er mit 94 die Bravo-
Hits-CD noch kaufen. Nein, da wird alles Mög­
liche passieren dazwischen.
Berg: Ich weiß nicht. Was erwartest du denn
von Menschen? Die machen doch alle immer
das gleiche Zeug, die essen, schlafen, ficken,
sterben. Und alles andere ist nur Verfeinerung.
Es passiert doch nichts Revolutionäres. Also
wenn wir jetzt Flugtaxis haben, da ist doch auch
drauf geschissen, das ist ja nicht revolutionär
neu. Dann f liegen die Dinger halt und stoßen
in der Luft zusammen statt am Boden. So eine
wahnsinnige Neuerfindung des Menschseins
kann’s doch gar nicht geben.
Dath: Ich denke schon, dass man das Mensch­
sein radikal verändern kann.

Z E IT: Herr Dath, in Ihrem Buch kritisieren Sie
die Geisteshaltung der politischen Moralisten,
die statistisches und mathematisches Denken
von vornherein als totalitär ablehnen.
Dath: Öko als Cover für den Rückzug in so
Babykram. Das ist dann nur noch so eine In­
nerlichkeitssoße von Leuten, die sich einfach
besser fühlen, wenn sie irgendwas nicht verste­
hen. Aber Zahlen sind Waffen. Nicht nur für die
Macht. Alles andere ist Momo.
Z E IT: Frau Berg, würden Sie da zustimmen?
Sie beklagen, wie Menschen hinter In for ma­
tions tech nik, Statistik, Big Data verschwinden.
Berg: Also erst mal beklage ich nicht, dass
Menschen hinter Daten verschwinden. Vorher
sind Menschen hinter anderen Sachen ver­
schwunden, die verschwinden halt generell.
Aber wenn es bei der hektisch betriebenen digi­
talen Entwicklung darum geht, bessere Men­
schen zu entwickeln, das heißt zuverlässige,
nicht streikende Lohnempfangende, dann darf
man sich wundern. Und was ich bedenklich
finde, ist, dass die Menschen das nicht wissen.
Z E IT: Weil es sie nicht interessiert?
Berg: Und weil kein Interesse daran besteht,
dass die Masse zu viel versteht. Die wunderbare
digitale Revolution mit ihrer neuen Ordnung ist
wieder nur von Menschen erfunden, präziser:
von weißen, männlichen Menschen. Kann das
dann wirklich neu sein?
Dath: Aber wer die Regeln festlegt, bestimmt
damit nicht den ganzen Spielverlauf. Mein Ziel
wäre: Die Leute, die das exakte Zeug noch nicht
entdeckt haben, sollten das entdecken, nämlich
die bis jetzt Gearschten.
Z E IT: Viele scheuen Mathematik, Informatik.
Berg: Dass Frauen sich immer noch kaum ak­
tiv an der Entstehung der neuen Weltordnung
beteiligen, nur weil es einigen zu langweilig
scheint, nehme ich fast persönlich. Natürlich
geht es darum, die Strukturen zu zerschlagen,

um sie neu zu entwickeln. Aber dazu muss man
sie verstehen und beherrschen. Apropos: Ich
kann ja auch keine Codes schreiben. Aber wenn
es gerade irgendeine politische Aufgabe für
mich gibt, dann wäre das: verständlich machen,
was die Digitalisierung bedeuten kann.
Dath: Dafür ist so eine Form der Literatur da,
ob man sie jetzt Science­Fiction nennt oder
nicht: Sie ermöglicht Dialog zwischen diesen
Welten. Und der Literaturhaus­Literatur werfe
ich vor, dass sie das alles nicht mehr interessiert.
Berg: Warum regt uns das eigentlich immer
noch auf?
Dath: Mich regt’s immer mehr auf.
Z E IT: Was regt Sie auf?
Berg: Die institutionelle gefühlte Vernichtung
der Freude am Lesen.
Dath: Weil das eigentlich so was Geiles sein
könnte. Weil das einen Millimeter entfernt ist
von was richtig Geilem: deutschsprachiger Li­
teratur, von Goethes Faust II über Döblins Berge
Meere und Giganten bis zur Trobadora Beatriz
von Irmtraud Morgner, ein spekulativer Schatz,
der das Denk­ und Tatvermögen erweitern kann
wie Differentialrechnung oder Crispr­Schnip­
seln. Aber jetzt ist im Betrieb alles eng und klein.
Berg: Schade eigentlich.
Dath: Ja, schade eigentlich.
Berg: Dumm gelaufen.

»Ach,wennUlrich Tukur


sichdoch nurentschließen


könnte weiterzuschreiben.


Daswärensch öne


Au ssichten!«
NDRK ulturzu»DieSpieluhr«

©Katharina John

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