DIE ZEIT 42/19 19
Königin im Lockenwickler
Norbert Scheuers Tagebuch-Roman »Winterbienen« erzählt von der Eifel im »Dritten Reich« –
und wie ein epileptischer Imker und Ex-Lateinlehrer Juden vor der Vernichtung rettet
VON MARKUS CLAUER
W
interbienen sind
Küm merer. Mit vi-
brierender Brust-
muskulatur erzeu-
gen sie Wärme, die
sie mit Flügelschlä-
gen im Stock ver-
teilen. Das karge Eifeler Urftland ist ein vom
Bergbau unterminierter Flecken nahe Belgien.
Ein Fluchtgebiet in der Nazi-Zeit. Im Zweiten
Weltkrieg flogen die alliierten Bomber lange
achtlos darüber hinweg wie Bienen über Sand-
wüsten. Unweit, in seinem Ge burts ort Kues, ist
das Herz von Nicolaus Cusanus (1401 bis 1464)
begraben, dem Humanisten und Kardinal. Der
Himmel ist manchmal grau wie Zement.
Norbert Scheuer, pensionierter Systempro-
grammierer der Telekom, studierter Philosoph
und Autor magisch aufgeladener Anti-Idyllen
über diese Weltgegend, hat seinen achten Ro-
man geschrieben, der form voll endet einiges zu-
sammenbringt und parallel führt: den Krieg,
die Liebe, Krankheit, Tod, die Nord eifel, den
Holocaust, die Imkerei, Bienen-Volk und Nazi-
Staat. Winterbienen heißt diese Anthologie
der Analogien, an deren Ende Schwärme der
Spezies Apis mellifera Carnica in schwirrenden
Schleiern überm Feld schweben. Wie tanzende
Sterne eines summenden Universums. Der
Roman steht auf der Short list des Deutschen
Buchpreises, mit dem renommierten Braun-
schweiger Wilhelm Raabe-Literaturpreis wurde
er bereits ausgezeichnet.
Handlungsort ist wie immer bei Scheuer
Kall, an der Bahnstrecke zwischen Köln und
Trier gelegen. Ein wahrhaftiges Kaff und ein
Topos bei ihm wie die Cafeteria des Toom-
Supermarkts, woher er der Legende nach auch
dieses Mal seinen Stoff hat. Immer weiter
malt Scheuer sein zeitkoloriertes Geschichts-
und Geschichten-Panorama aus, grundiert mit
einem Eifeler Landschaftsporträt. Im Zentrum
Außenseiter und Randgestalten, als treuer
Scheuer-Leser fühlt man sich mit ihnen fast
schon verwandt.
Der Roman also besteht aus einem fikti-
ven Tagebuch aus der Zeit zwischen Januar
1944 und Ende Mai 1945. Ein gewisser Egi-
dius Arimond, Imker, der winterbienengleich
seine Völker hegt und pflegt, protokolliert
seine Zeitläufte. Zudem sind Aufzeichnungen
eingeklinkt, datiert vom Ende des 15. Jahr-
hunderts. Der Benediktinermönch Ambrosius
Arimond, ein Vorfahr von Egidius, berichtet
darin, wie er als Kind half, das mit Bienen-
wachs balsamierte Cusanus-Herz über die
Alpen zu karren. Egidius, so die Kon struk-
tion, übersetzt diese Aufzeichnungen aus
dem Lateinischen. Ihre Bienen sind vom
selben Stamm.
Egidius Arimond, der Tagebuchschreiber
und unfreiwillige Held der Winterbienen, ist
der Cousin von Sanny aus Scheuers Roman
Überm Rauschen. Jetzt, Jahrzehnte früher, ge-
hört ihr ein Gasthaus, in dem Egidius Amou-
ren mit einsamen Marias und Annas pflegt.
Deren Männer sind im Kriegseinsatz, vor dem
ihn seine Epilepsie bewahrt. Die Welt spielt
verrückt, er lebt in seiner eigenen, die erfüllt
ist von einem ruhigen Tagesfluss und inneren
Ausnahmezuständen. Die Krankheit ist Meta-
pher und Bedrohung in einem.
Denn die Nazis haben den Lateinlehrer
Egidius aus dem Schuldienst entfernt. Er ist
aus »rassenhygienischen« Gründen zwangsste-
rilisiert worden. Dass er kein Euthanasie-Opfer
wird, verdankt sich nur dem Umstand, dass
sein Pilotenbruder als Kriegsheld verehrt wird.
Vor allem aber muss Egidius dringend seine
Medikamente finanzieren. So verhilft er Juden
zur Flucht über die belgische Grenze – gegen
Geld. Ein handfester Humanismus, bei dem
Egidius sein Leben riskiert. Eine wahre Pracht,
wie Scheuer das alles motivisch verbindet.
Als Scharnier fungiert die örtliche Biblio-
thek, in der eine geheime Flucht orga ni sa tion
Informationen für den Fluchthelfer Egidius
hinterlässt. Die findet er dort regelmäßig,
während er unauffällig die Aufzeichnungen
seines Vorfahren Ambrosius übersetzt. In der
Bibliothek kommt er auch Charlotte nahe, der
Frau des NSDAP-Kreisleiters, die ihn später
verstoßen wird, als sei er ihre Drohne gewesen.
Ein Buch, verfasst in einem Pleinair-
poetischen Beschreibungston: Die Nahauf-
nahme einer Welt, in der die Toten schließlich
im Bombentrichter einfach liegen bleiben.
Einmal fährt Hitler durchs Bild, den Egidius
voller Verachtung nur »Jupp« nennt, vorbei
an Geschäften, die nichts mehr zu verkaufen
haben. Er notiert, wie er seine Bienenvölker
kontrolliert – und im nächsten Satz folgt la-
pidar: »Am Seeufer lagen zwei tote Landser
unter einer Pferdedecke.« Alle Daseinsdinge
sind gleich bedeutsam.
Die Unterwelt des Urfter Bergschadens-
gebiets ist Egidius’ Terrain: In einer Grotte
versteckt er seine jüdische Kundschaft, bevor
er sie in einem XL-Bienenstock weitertrans-
portiert, in dem er auch seine Tagebücher ver-
wahrt. Den Flüchtlingen heftet er seinen Lieb-
schaften entwendete Lockenwickler an, darin
eine Bienenkönigin: Denn falls sein Wagen
kontrolliert wird, umhüllt das Bienenvolk voll-
ständig die lebendige Fracht, um ihre Königin
zu schützen; der Flüchtling bleibt unentdeckt.
Egidius lebt in seinen Notizen weiter. Und
in seinen Taten. So kommt eines Tages in Kall
ein Brief von Esther aus Haifa an: Sie bedankt
sich bei Egidius für ihre Rettung. Und wir
können nur staunen über Norbert Scheuers
Kunst: Was für ein reifes, reiches, unaufdring-
lich überwältigendes Buch.
Norbert Scheuer:
Winterbienen
Roman; mit Illustrationen
von E. Scheuer; C. H. Beck,
München 2019; 319 S., 22,– €,
als E-Book 17,99 €
»Ja, es ist
gefährlich und
schwierig,
die Wahrheit
aufzuschreiben«
NORBERT SCHEUER
Foto: Elvira Scheuer