Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

BELLETRISTIK


Und plötzlich sind sie weg


In Valeria Luisellis Roman »Archiv der verlorenen Kinder« treibt eine amerikanische


Mittelklasse-Familie durch die USA und wird zu Zeugen des Flüchtlingsdramas


VON JUDITH HEITK AMP

L


ange Autofahrten mit Kindern
werden gern als fröhliche Mi-
schung aus Kekskrümeln, Rate-
spielen, angestrengten Eltern
und dringenden Pinkelpausen
erzählt. So gut wie nie werden
die Kinder solcher Erzählun-
gen in die Wüste geschickt. Nie wird ihnen
dafür eine Telefonnummer unter den Kragen
gestickt, für den Fall, dass sie auf der anderen
Seite der Wüste tatsächlich lebend wieder auf-
tauchen sollten. Fröhliche Mittelklasse-Auto-
fahrten und hoffnungslose Wüstendurchque-
rungen sind zwei Erzählwelten, die keine Be-
rührungspunkte haben, und wir als Lesende,
besonders als lesende Eltern, treffen die Wahl,
welchem Segment der Realität wir uns ausset-
zen, was wir aushalten können.
Verdrängung halt.
Die Welt der Ich-Erzählerin in Valeria
Luisellis Roman Archiv der verlorenen Kinder
lässt sich zuordnen. Eine New Yorker Patch-
work-Familie, sie mit ihrer Tochter (5), er
mit seinem Sohn (10), wochenlang im Auto
unterwegs in den Süden der USA. Hörbücher
werden gehört, Popsongs gesungen, pädago-
gisch wertvolle Vorträge gehalten (das Stück
»bezeichnet man nicht als Lied, sondern als
Suite«). Leider kriselt die Beziehung, sie sin-
niert über das erwartete Auseinandergehen, Foto: Dan Callister/Kunstmann

er sagt nicht viel. Beide sammeln beruflich
Soundbites: Er ist auf den Spuren der letzten
freien Chiricahua-Apachen, sie reist mit jour-
nalistischem Interesse für die immigration
crisis, besonders für die vielen unbegleiteten
Flüchtlingskinder, die versuchen, sich aus
Zentral- und Südamerika in die Vereinigten
Staaten durchzuschlagen. Ihre Recherchen be-
richten vom Trick mit der eingestickten Tele-
fonnummer. Sieben Archiv- Schachteln stapeln
sich im Kofferraum (zusätzlich zum sonstigen
Gepäck!, staunen Mittelklasse-Lesende), vier
mit Materialien für das Projekt des Vaters,
eine mit Materialien der Mutter und jeweils
eine pro Kind, aus Gründen der Fairness.
Die Inhaltsverzeichnisse dieser sieben
sorgfältig inventarisierten Schachteln struk-
turieren das Buch. Valeria Luiselli führt uns
in eine wohlgeordnete Akademiker-Welt.
Scheint es. Romane finden sich da, Sekundär-
literatur, Karten, Gedichte, Audios, kleine Bi-
bliografien zu »archivieren«, »inventarisieren«,
»katalogisieren« – willkommen in der Meta-
ebene. Die Realität besteht aus widersprüch-
lichen Segmenten, aber Luisellis Figuren
kämpfen darum, sie doch zu fassen zu krie-
gen. Wie ist sie zu benennen und zu ordnen,
wie ist den Euphemismen zu entkommen und
den Kurzschlüssen, was ist festzuhalten und
was nicht? Dem Leser präsentiert sich das

Zuviel


»›Aber wo genau


fahren wir


denn hin?‹, fragten


d ie K inder«


VALERIA LUISELLI

WIE SEHR KANN


MAN LIEBEN?


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