auch mal wissenschaftlich oder collagenhaft,
als Polaroid-Sammlung oder in essayistischen
Passagen; Luisellis Schreiben experimentiert
in vieler Hinsicht mit der Form. Was darf
Kunst? Was soll Journalismus angesichts des
puren Elends? Wie handelt sich »Familie«
aus? Und, Achtung, auch: Was täten unsere
Kinder, wenn sie auf sich allein gestellt wären?
Die Grenze zwischen Realität und Fik tion
ist nicht nur im Buch hauchdünn. Valeria
Luiselli, in Mexiko geboren und heute in den
USA lebend, hat eine ähnliche Fahrt mit ihrer
Patchwork-Familie unternommen, sie hat da-
rüber im New Yorker geschrieben, sie hat als
ehrenamtliche Übersetzerin für unbegleitete
Flüchtlingskinder gearbeitet und auch das
in Essays verarbeitet (Tell Me How It Ends).
Damals wurde sie auf die verzweifelte Tech-
nik des Stickens von Telefonnummern gesto-
ßen. Die Schatten der realen Fälle unterwegs
verschwundener Kinder verfolgen nun auch
die privilegierten Protagonisten im Buch. In
Romanform kann Luiselli tagesaktuelle De-
batten verlassen (Trumps Mauer wird in dem
auch im Original 2019 erschienenen Buch
nicht erwähnt, die Handlung spielt vor dem
politischen Hintergrund des Jahres 2014), sie
setzt sich grundsätzlicher, persönlicher mit
Flucht und Migration auseinander – und mit
dem Schreiben darüber. Writing about writing
about the border crisis, hat der Kritiker James
Wood das genannt.
Mit Susan Sontag, Ezra Pound, Emmet
Gowin, Robert Frank blickt die Ich-Erzäh-
lerin auf Leben und Land, immer on the
road zwischen Intertextualität und American
Diner. In ihrer Schachtel liegen aber auch
Statistiken und Zeitungsberichte darüber, wie
Fünf- bis Zehnjährige Tausende von Kilo-
metern bewältigen, zu Fuß, auf Zugdächern,
durch Urwald, durch die Wüsten zwischen
Mexiko und Arizona, wie sie interniert werden,
welche Sterblichkeitsraten wo zu ver zeichnen
sind. Ergibt alles zusammen – gelehrte, hilf-
lose Zeugenschaft. Alle Ordnungssysteme
wird die Verfasserin später implodieren las-
sen, beim Plot und bei der Form.
Während also ausführlich die Netzwerke
des Geistes und der Belesenheit beschworen
werden, entsteht der Verdacht, dass dieser
Text trotzdem nicht vollständig ist. Intellek-
tuell versiert, das ja. Erst viel später erfahren
wir von der politischen Wut und der Ver-
zweiflung, die die Hauptfigur treiben. Und
zwar erfahren wir das von einem zweiten
Ich-Erzähler, der überraschend auf S. 219
eingeführt wird. Ein Kunstgriff: Von den
blinden Flecken der Erwachsenen wechselt
die Perspektive zu den blinden Flecken und
tieferen Wahrheiten eines Kindes. Also ein
geordneter Neustart: »Dies ist unsere Ge-
schichte und die der verlorenen Kinder von
Anfang bis zum Ende, und ich werde sie
dir erzählen ...«, so verspricht der zehnjäh-
rige Junge seiner Schwester Deutung und
Klarheit. In seiner Archiv-Schachtel spielen
nämlich völlig andere Kategorien eine Rol-
le: Die Referenzen verschwinden, alles wird
unmittelbar. Sehr genau hat dieses Kind die
Entfremdung der Erwachsenen mitbekom-
men und ihre wachsende Erschütterung über
das Schicksal der Flüchtlinge. Am Flughafen
von Artesia, Arizona, beobachtet die Familie
eine Abschiebung, Wendepunkt für alle und
Beginn dieses zweiten Teils des Romans:
Kinder seien »porös«, hatte die Mutter klug
bemerkt, ihr chaotisches Innenleben verwan-
dele »alles Reale in eine gespenstische Ver-
sion seiner selbst«. Und genau das passiert,
genau das ist Luisellis Mittel, um die Ver-
bindung zwischen road novel und Schlepper-
treck zu erschaffen.
Denn die beiden Kinder laufen davon,
auf der Suche nach den verlorenen Kindern
gehen sie selbst verloren; das Buch kippt, die
Ordnung der Schachteln wird zerstört, die
Wirklich keiten berühren sich, verschwimmen;
ein geheimnisvolles rotes Buch aus Schachtel
V entwickelt sich zur dritten Erzählstimme.
Nach den oft kurzen Kapiteln der ersten Hälf-
te kulminiert der Roman in einem mehr als
22-seitigen Satz – alles geht mit allem zusam-
men. Und genauso atemlos liest man das auch,
aus der Geborgenheit der Querverweise heraus-
gerissen, hineingestoßen in den Albtraum.
Ausgehebelt, die Verdrängung.
Aus Sprengung der Romanform, Autofik-
tion, Imagination und mithilfe eines bravou-
rösen Rollenwechsels stellt Valeria Luiselli
Entsetzen her, das Entsetzen, das uns packt,
wenn das eine Kind verschwindet. Politisch
kann sich daraus nur der Kampf für eine an-
dere Grenz- und Einwanderungspolitik »die-
ses gigantischen Landes« ergeben. Bis dahin
bleibt die Herausforderung, die Geschichten
der Verlorenen aufzubewahren, immer wieder
aufzurufen und neu zu erzählen. So, wie
Valeria Luiselli das reflektierend und sug-
gestiv zugleich tut – anstrengend und um-
werfend. Das viel beschworene Archiv macht
sie zum »Echo-Register« – es kann die ge-
trennten Sphären verbinden, die Autobahn-
fahrten und die Wüstendurchquerungen.
Auch ihr Roman soll ja ein Archiv der ver-
lorenen Kinder sein. Sie wird der Aufgabe
verstörend gerecht.
Valeria Luiselli:
Archiv der verlorenen Kinder
Roman; a. d. Engl. v. Brigitte Jakobeit;
Kunstmann, München 2019;
432 S., 25,– €, als E-Book 19,99 €
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