Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

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SACHBUCH


DIE ZEIT 42/19

Rennen ist die erste


Bürgerpflicht


Fünfzig Jahre Fitness: Jürgen Martschukat scheucht den Leser vom Trimmpfad bis in die Crossfit-Box


VON MAJA BECKERS

W


ann ist es eigentlich
normal geworden,
einen Marathon zu
laufen? Mit dem
Fahrrad zur Arbeit
zu fahren, den
Samstagvormittag
im Fitnessstudio zu verbringen und den Ur-
laub im Yoga-Retreat?
1970 noch war das kaum denkbar,
schreibt der Historiker Jürgen Martschukat in
seinem neuen Buch Das Zeitalter der Fitness:
»Wander urlaube waren etwas für Rentner
und das Windsurfen gerade erst erfunden, der
Berlin-Marathon existierte noch gar nicht. Die
wenigsten Erwachsenen besaßen ein Fahrrad.«
Seitdem boomt das Training. Und all
den »fittenden« Menschen ist gemeinsam, so
Martschukat, dass sie sich selten in Vereinen
organisieren. Sie sprinten auch nicht um Me-
daillen oder spielen in einer bestimmten Liga.
Es geht fast nie ums Gewinnen, und trotzdem
wollen sich alle irgendwie verbessern.
Ihr Training zielt auf den fitten Körper und
ist deshalb auch kein Bodybuilding, das oft
eher dysfunktionale Körper hervorbringt. Der
fitte Körper dagegen muss »fähig« sein, wenn
auch zu Dingen, die man gar nicht braucht,
wie beispielsweise 15 Klimmzüge mit Um-
greifen. Genau das auszustrahlen wurde zum
Symbol für Leistung überhaupt, für Vernunft
und Verantwortung und dafür, dass man sein
Leben sinnvoll nutzt. Damit sei Fitness zum
»Kennzeichen und regulierenden Ideal« der
Moderne geworden, so Martschukat.
Die Initialzündung für die heutige Fit-
nesskultur sieht er im Übergang vom orga-
nisierten zum flexiblen Kapitalismus, der in
den Siebzigerjahren begann, Angestellte zu
»Arbeitskraftunternehmern« zu machen, also
in der neuen Kultur der Selbstverantwortung.
Doch sollte man sich nicht von der Unlust, den
Neoliberalismus noch als Begründung für ir-
gendwas interessant zu finden, von dem Buch
abbringen lassen. Denn dieses Argument gibt
zwar die Richtung vor, liest aber unterwegs
eine Menge weitere interessante Beobachtun-
gen auf, wie etwa die, dass »Faulheit« irgend-

wann auf hörte und stattdessen »Ermüdung«
anfing, der größte Feind der Produktivität zu
sein. Oder wie die Angst vor Fettleibigkeit
historisch mit der Angst vor einer vor allem
männlichen Weichheit zusammenging. Oder
wie die These, dass Fitness etwas sei, das man
nie hat, sondern sich immer wieder neu ver-
dienen muss, »bis in alle Ewigkeit«, schrieb
die Runner’s World einmal.

Der freie Markt mag das moderne Fit-
ness ethos zugespitzt haben, doch Martschu-
kats Argument geht darüber hinaus. Für ihn
ist die Geschichte der Fitness mit der Idee
des freien Individuums eng verflochten. In
Über die Freiheit schrieb John Stuart Mill,
die wahre Quelle und Grundbedingung von
Freiheit und gesellschaftlicher Entwicklung
sei der Antrieb der Einzelnen, die eigenen Fer-
tigkeiten und Lebenschancen zu verbessern.
Heute glaubten wir, an einem fitten Körper
ablesen zu können, dass jemand genau diesen
Antrieb hat und seine Freiheit richtig nutzt.
Deshalb, so Martschukat, könne auch die
Furcht vor dem Fett eine solche Wucht entfal-
ten: Wer dick sei, gerate heute unter Verdacht,
nicht nur faul zu sein, sondern auch jemand,

der mit Freiheit nicht umgehen könne, also
ein failed citizen. Derzeit kämpfen fat activists
gegen das, was sie die letzte erlaubte Form der
Diskriminierung nennen und was auch Mart-
schukat kritisiert: Fitness sei zum Normal-
zustand geworden. Als gebe es, was die Phi-
losophin Abby Wilkerson einen »schlanken
Gesellschaftsvertrag« nannte.
Verstöße dagegen werden mit höheren
Kosten und schlechteren Jobchancen geahn-
det. Auch das ist für Martschukat ein Anzei-
chen für das Zeitalter der Fitness: Eine Gesell-
schaft nimmt sich vor, soziale Teilhabe nicht
an körperliche Kategorien zu knüpfen – und
zieht doch zwischen fetten und fitten Körpern
neue Linien.
Das alles klingt konsistent und wird in
einem riesigen Anhang von 100 Seiten be-
legt. Trotzdem hat man den Eindruck, dass
Martschukat nur eine Seite des Fitnesskults
beschreibt. Fitness hat auch noch eine andere
Seite. Optimierung kann ihr Antrieb sein,
muss es aber nicht. Gerade weil es ihr nicht
um Medaillen geht, gerade durch ihre ziellose
Körperlichkeit eignet sie sich auch zum Rück-
zug aus einer geistig optimierten Welt: Statt
ständig kreativ sein zu müssen, laufe ich mal
eine Stunde stumpf vor mich hin, statt er-
reichbar zu sein, verschwinde ich einen Abend
in der Crossfit-Box.
Auf die Frage, wie in der vergeistigten Mo-
derne ausgerechnet der Körper zum Symbol
für Leistung, Vernunft und gutes Bürgerdasein
werden konnte, erhält man hier einige interes-
sante Antworten. So heißt es über die Feminis-
tin Frances Willard, die im 19. Jahrhundert
das Radfahren lernte: »Für Willard verkörperte
das Radfahren die gesamte freiheitlich demo-
kratische Lebensphilosophie. Denn Radfahren
bedeutete harte Arbeit an sich selbst bei gleich-
zeitig moderatem Vergnügen.«

Jürgen Martschukat:
Das Zeitalter der Fitness
S. Fischer, Frankfurt 2019;
352 S., 25,– €, als E-Book 22,99 €

»Kampf bereitschaft,


Potenz, Schlankheit


und normschönes


Aussehen«


JÜRGEN MARTSCHUKAT

Foto: Hamish John Appleby/Universitaet Erfurt
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