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und umblättern können. Sie wirken auf uns,
selbst wenn wir gerade nicht lesen.
Z EIT: Was hat Sie zur Philosophie geführt?
Casiraghi: Ich habe mich von klein auf aus
der Welt, in der die Sichtbarkeit herrscht, le-
send in Räume des Zögerns, der Ungewissheit,
des Mehrdeutigen und der Zerbrechlichkeit
begeben. Zuerst in die Literatur. Der Dichter
Charles Baude laire hat mir eine Welt der Lei-
denschaften aufgeschlossen: die Grausamkeit
und die Ekstase, die Langeweile, die Lust.
Diese Lektüren hatten für mich etwas Über-
wältigendes. Deshalb habe ich als Schülerin
auf die ersten Philosophiestunden geradezu
gewartet, um endlich verstehen zu lernen.
Maggiori: Bei mir lag es an Jean-Paul Sartre.
Ich war Schüler, wollte Chemiker werden.
Dann stieß ich auf Sartres Die Wörter, trug
bald sein Hauptwerk Das Sein und das Nichts
unterm Arm und wollte fortan Philosophie
studieren. Der Direktor rief deshalb besorgt
meinen Vater zu sich. Aber der sagte zu mir,
als wir das Direktorenzimmer verließen:
»Wichtig ist nur, dass du die Welt verstehst.«
Dieser Satz hat mich seither begleitet.
Z EIT: Ihr Buch steht in einer langen euro-
päischen Tradition, in der Männer des Geistes
mit Damen aus dem Hochadel ihre Philoso-
phie entwickeln – wie Leibniz mit seiner jun-
gen Schülerin Sophie Charlotte, der späteren
preußischen Königin, oder Descartes mit
Elisabeth von der Pfalz. Sehen Sie sich in die-
ser Tr a d it ion?
Casiraghi: Diese Sicht trägt von außen etwas
an unsere Arbeit heran, das aber nicht in ihr
liegt – als sei ich die Prinzessin gewesen, die
durch den Geist aufgeklärt wurde. Nein, ich
bin studierte Philosophin, habe die Philoso-
phischen Begegnungen von Monaco aufge-
baut, bringe meine Zeit mit Nachdenken, Lesen
und Schreiben zu. Der Dialog mit Robert ist
aus einer genuin pädagogischen Beziehung
entstanden, und die steht jedem offen, unab-
hängig von der Herkunft. Die Philosophie ist
ein Kampf gegen die Voreingenommenheit.
Z EIT: Sie könnten unterschiedlicher kaum
sein, was Herkunft, Alter oder Geschlecht be-
trifft. Ihr Buch haben Sie dennoch »vierhän-
dig« geschrieben, wie Sie es im Vorwort nen-
nen. Was bedeutet das?
Maggiori: Unser Buch ist aus einem jahre-
langen Gespräch entstanden und aus der Ver-
tragen auch ihr Gegenteil in sich: Kein Ekel
ohne Faszination, in der Ekstase lauert das
Entsetzen, und die Angst engt nicht nur ein,
sie kann auch befreiend wirken. Wir wollten
stilistisch die Bedeutungen zum Fließen
bringen.
W
ie sieht ein Buch
aus, das diese Ideen
umsetzt? Es be-
ginnt mit der Lie-
be, es endet mit
dem Hass: Auf fast
350 Seiten sind es
genau vierzig Leidenschaften, Affektschattie-
rungen oder Gefühlsfarben, die je ein Kapitel
bekommen, und in jedem entsteht der Umriss
eines Gefühls aus einem Gespräch mit der phi-
losophischen Tradition, ihren Texten, ihren
Autoren. Bergson, Freud, Kant, Aristoteles,
Marzano, Lévinas, Nietzsche, Heidegger, Tho-
mas von Aquin und viele andere. Zum Beispiel
im Essay über das Wohlwollen: Darin zeigen
Casiraghi und Maggiori, wie Aristoteles aus-
führt, das Wohlwollen habe mit der Freund-
schaft Ähnlichkeit. Es könne sogar am Anfang
des freundschaftlichen Gefühls stehen, wie die
Freude am Anblick einer Person der Anfang
der sinnlichen Liebe sein kann. Das Wohl-
wollen sei aber nicht identisch mit Freund-
schaft. Denn man könne es auch gegenüber
Fremden empfinden und ohne Wissen des
anderen, weil keine Erwiderung notwendig sei
und weil insbesondere wohlwollende Men-
schen anderen bloß Gutes wünschen und
(noch) nicht bereit seien, sich dafür anzustren-
gen. Wohlwollen, Freundschaft, Liebe, Güte:
Sie gewinnen ihre Bedeutungen aus einander.
Und so bilden die vierzig Kapitel mit-
einander eine Landschaft aus Bedeutungs-
inseln, die nicht voneinander zu trennen
sind. Ähnlich einem natürlichen Archipel,
der aus einer Gruppe von Inseln besteht
und aus dem Gewässer, das sie verbindet, ist
das Buch gebaut. Dort bringt das Autoren-
duo die Leidenschaften in einen fließenden
und umflossenen Zusammenhang. Dafür
bilden sie drei Gruppen: die Liebe etwa
mit der Freundschaft, der Brüderlichkeit,
der Güte, dem Mitgefühl, der Freundlich-
keit – als wohlwollende Absichten. Oder,
in der großen Gruppe der Intensitäten: die
»Unsere heutige Gesellschaft kennt keine festen Anhaltspunkte
der Gefühle mehr. Das macht uns Angst«
ROBERT MAGGIORI
schiedenheit unserer Stimmen. Ein Dialog ist
ein Weg, der durch diese Alterität hindurch-
führt. Unsere Unterschiede sind vernehmbar
geblieben. Ich selbst bin stark durch meinen
Lehrer Vladimir Jankélévitch geprägt, Char-
lotte eher durch die Poesie und die Psycho-
analyse. Und doch wollten wir unsere Hand-
schriften verschlingen. Vor allem wollten wir
eines auf keinen Fall: belehren. Wir wollten
keine Lektionen erteilen. Jedes Kapitel endet
offen – in der Leserin, im Leser.
Z EIT: Sie spielen aber mit den Lesern Verste-
cken. Man sieht den Kapiteln nicht mehr an,
wer was geschrieben hat. Warum haben Sie die
Abschnitte nicht namentlich gekennzeichnet,
wie es etwa Ihre Vorgänger vor 250 Jahren
getan haben, die Autoren der Encyclopédie?
Maggiori: Die Abschnitte namentlich zu
zeichnen hätte die Idee unseres Vorhabens zer-
stört. Wir sind ein zweifacher Autor – kein Satz
in diesem Buch, der nicht von beiden verfasst
wäre, in einem fortwährenden Stoffwechsel,
aus dem die Gestalt des Buchs hervorging.
Casiraghi: Unser Stil und unser Gegenstand
formen ein an der: Das Buch will eine Land-
schaft aus Gefühlen abbilden, in der es keine
scharfen Grenzen, sondern nur f ließende
Übergänge gibt, wie zwischen Inseln, die von
einem wogenden Meer umgeben sind. Die
Leidenschaften, die wir darstellen wollen,
Fotos: Ed Alcock/M.Y.O.P./laif
CHARLOTTE CASIRAGHI
stammt aus dem monegassischen
Fürstenhaus, studierte
Philosophie und macht Mode