Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1
Der Unternehmer Jeff Bezos
gründete Amazon
1995 in einer Garage am
Rande von Seattle

Die Abgeordnete
Kshama Sawant glaubt:
Amazons Wachstum
zerreißt die Stadt

Foto: Kyle Johnson/laif Fotos (v.


o.

n.^

u.): Grant Hindsley für DIE ZEIT; MEGA

Eine Frau gegen den reichsten Mann der Welt


In Seattle, dem Hauptsitz von Amazon, steigt die Wut auf Konzernchef Jeff Bezos. Niemand heizt sie so an wie


die Lokalpolitikerin Kshama Sawant, die selbst mal Softwareentwicklerin war VON CATERINA LOBENSTEIN


N


eulich ist wieder einer ge­
storben. In der Nähe des
botanischen Gartens, unter
der Brücke, über die der
dreispurige Highway 520
führt. Der Mann war 59, er
lebte in einem Ruderboot
aus Aluminium, über den Bootsrumpf hatte er
eine Plane gespannt gegen den Regen, der hier in
Seattle, im äußersten Nordwesten der USA, von
allen Seiten kommt. Neben ihm lagen Angelruten,
ein Campingkocher, ein batteriebetriebenes Radio
und ein Hund. Der Hund war ebenfalls tot.
So stand es Ende August in der Lokalzeitung.
Eine traurige Geschichte, aber nicht ungewöhn­
lich: Mehr als 190 Obdachlose sind allein im ver­
gangenen Jahr in Seattle gestorben, im Schnitt fast
vier pro Woche. Dass dieser Tote es in die Zeitung
schaffte, hat vermutlich damit zu tun, dass er so
lange unentdeckt blieb. Acht Monate lag er in
seinem Boot. Als man die Leiche fand, war davon
nicht mehr viel übrig.
Ein paar Kilometer vom Fundort entfernt, am
anderen Ende der Brücke, stehen mehrere Villen.
2500 Quadratmeter Wohnfläche, mit Bootshaus
und privatem Steg. Hier lebt Jeff Bezos, der Chef
des Digitalkonzerns Amazon, der in Seattle seinen
Hauptsitz hat. Bezos verfügt laut dem Magazin
Forbes über ein Vermögen von mehr als hundert
Milliarden Dollar. Er ist der reichste Mann der
Welt. Viele in der Stadt glauben, Bezos sei mitver­
antwortlich für die Not auf Seattles Straßen. Die
Stadträtin Kshama Sawant zum Beispiel.
Es ist ein Abend im August, und Sawant betritt
die Bühne einer stickigen Mehrzweckhalle im Sü­
den von Seattle. Vor ihr drängen sich rund zwei­
hundert Menschen. Es gibt Wein aus Plastik­
bechern, an den Wänden hängen Plakate, »Be­
steuert Amazon!« steht darauf, oder »Bezahlbarer
Wohnraum für alle!«.
Sawant greift zum Mikro. »Wer soll unsere
Stadt regieren – Jeff Bezos?«, fragt sie.
»Nooooooo!«, johlt die Menge.
Es ist Sawants Aufwärmübung.
Sawant ist 45 Jahre alt und promovierte Öko­
nomin. Sie trägt einen roten Schal, sie spricht mit
heiserer Stimme und geballter Faust. Im Novem­
ber wird in Seattle ein neuer Stadtrat gewählt, Sa­
want, seit sechs Jahren Ratsmitglied, steckt mitten
im Wahlkampf. Und obwohl es nur eine Kom­
munalwahl ist, weiß die halbe Welt darüber Be­
scheid. Die New York Times hat über Sawants
Kampagne berichtet, der Guardian, der Econo-
mist. Es geht darin nicht nur um lokale Befind­
lichkeiten, sondern um ein globales Problem. Um
hoch bezahlte Softwareentwickler, die dorthin
ziehen, wo Tech­Konzerne sich niederlassen und
mit rasender Geschwindigkeit wachsen. Um ein­
fache Wohnungen, die so teuer geworden sind,
dass Krankenschwestern und Lehrer sie nicht
mehr bezahlen können. Um eine Dynamik, die in
den jungen Jahren der Tech­Industrie erst San
Francisco und das Silicon Valley erfasste und heu­
te weltweit zu spüren ist. Überall da, wo der digi­
tale Kapitalismus nicht nur sein Wachstums­
potenzial, sondern auch seine Spaltkraft entfaltet.
In Seattle verdienen Fachkräfte aus der Digital­
branche laut einer Erhebung des Portals Business.
org im Schnitt 111.000 Dollar im Jahr – 70 Pro­
zent mehr als der Durchschnittslohn. Zwischen
2016 und 2018 sind die Immobilienpreise in kei­
ner US­Stadt so stark gestiegen wie in Seattle.
Manchmal spricht Sawant so laut, dass die Ver­
stärker übersteuern und die Babys im Saal zu
schreien beginnen. Ihre Wahlkampfrede klingt
wie ein Wutausbruch: »Wir werden nicht zulas­
sen, dass sich unsere Stadt in einen Spielplatz für
Reiche verwandelt!« Die Leute pfeifen und trom­
meln mit den Füßen.
Sawant ist Mitglied der linken Splitterpartei
Socialist Alternative. Normalerweise nichts, wo­
mit man in den USA Wahlen gewinnt, selbst im
linken Seattle nicht. Aber die Norm als politischer
Kompass hat ausgedient in einem Jahrzehnt, in
dem erst die Wall Street zusammenbrach, dann
die Digitalindustrie ganze Wirtschaftszweige zer­
störte und schließlich ein Milliardär und Immo­
bilientycoon ins Weiße Haus einzog.
Im ersten Wahlgang bekam die Sozialistin Sa­
want 33 Prozent der Stimmen. Nicht sonderlich
viel für eine Amtsinhaberin, aber mehr als alle
anderen Kandidaten. In der Stichwahl tritt sie
nun gegen den parteilosen Egan Orion an, dessen
Wahlkampf von Amazon­Managern mitfinan­
ziert wird.

Kshama Sawants Abgeordnetenbüro liegt in
Downtown Seattle, nicht weit von Amazons gläser­
nem Hauptquartier entfernt. Amazon, einer der am
schnellsten wachsenden Konzerne der Welt, hat in
den vergangenen Jahren Dutzende Wolkenkratzer
und Bürogebäude in Seattle gebaut. Mehr als 50.000
Menschen arbeiten heute für den Konzern in
Seattle – 2010 waren es 5000. Gleich um die Ecke
hat Google einen neuen Campus eröffnet und an­
gekündigt, Tausende neue Mitarbeiter einzustellen.
Aus fast jeder Baulücke ragt ein Kran in den
Himmel, Bagger reißen die Wege auf, Walzen rollen
über heißen Teer. Man kann hören und riechen, wie
schnell die Stadt wächst. Und man kann sehen, wie
überfordert sie damit ist. Auf den Highways quälen
sich die Autos durch kilometerlange Staus. Unter
den Brücken liegen jene, für die kein Platz mehr ist:
die Fentanyl­ und Heroinabhängigen, die offensicht­
lich Gestrauchelten. Aber auch die, denen man es
nicht ansieht, die Mütter, die morgens ihre Kinder
zur Schule bringen, und die Studenten, die täglich
zur Uni fahren. Es gibt Obdachlosencamps in
Seattle, in denen hat jeder zweite Bewohner einen
bezahlten Vollzeitjob. Weil die Zahl der Wohnungs­
losen explodierte und immer mehr Schulkinder in
Zelten und Verschlägen lebten, rief die Stadt im Jahr
2015 den Notstand aus. Das erlaubt ihr, Gelder un­
bürokratisch umzuschichten, um den Wohnungs­
losen zu helfen. Der Notstand hält bis heute an.
Kshama Sawant glaubt, dass die Not sich lin­
dern ließe, wenn die Stadt ihre größten Unter­
nehmen stärker besteuern würde. Von den Mehr­
einnahmen sollten Häuser gebaut und gekauft
und günstig an einkommensschwache Menschen
vermietet werden. So eine Steuer hat es in Seattle
schon einmal gegeben: Im Frühjahr 2018 stimm­
ten die Bürgermeisterin und der Stadtrat ein­
stimmig darüber ab: 275 Dollar sollten Amazon
und andere große Firmen zahlen – pro Angestell­
tem und pro Jahr. Die »Amazon Tax« sorgte
weltweit für Aufsehen. Doch nur drei Wochen
später wurde sie wieder abgeschafft.
Was genau in diesen drei Wochen geschah, da­
von gibt es in Seattle verschiedene Versionen. Fest
steht: Viele Bürger fürchteten, die Steuer könnte
Amazon, den wichtigsten Arbeitgeber der Stadt,
vertreiben. Fest steht ebenso: Die Handelskammer,
der lange ein Amazon­Manager vorstand, pumpte
Geld in eine Kampagne, um die Bedenken zu ver­
stärken, und forderte einen Volksentscheid. Auch
die Gewerkschaft der Bauarbeiter, die von Seattles
Bauboom profitierten, schlug sich auf die Seite der
Steuergegner. Amazons Chef Jeff Bezos äußerte sich
öffentlich nicht. Er ließ die Fakten sprechen. Sein
Konzern baute damals gerade ein neues Bürohoch­
haus: Hunderte Arbeitsplätze hingen daran. Wäh­
rend die Stadt über die Steuer diskutierte, ordnete
Amazon einen Baustopp an. Das Unternehmen
suchte damals nach einem zweiten Standort für sein
Hauptquartier, jenseits von Seattle. 238 Städte
bewarben sich – und unterboten sich gegenseitig
mit milliardenschweren Steuererleichterungen. Die
Bürgermeisterin von Seattle und die Mehrheit des
Stadtrats – allesamt Mitglieder der Demokratischen
Partei – zogen die Steuer schließlich zurück.

»In Seattle spielt sich im Kleinen ab, was
man im ganzen Land beobachten kann«

Der Streit um die »Amazon Tax« gilt in den USA
längst als eine Art Stellvertreterkrieg zwischen denen,
die sich von Amazon, Google und Facebook einen
ökonomischen Aufschwung erhoffen, und denen,
die das gewaltige Wachstum dieser Konzerne als Be­
drohung empfinden. Die Stadträtin Kshama Sa­
want, die bis zuletzt für den Erhalt der Steuer stimm­
te, bekommt mittlerweile einen großen Teil ihrer
Wahlkampfspenden nicht aus Seattle, sondern aus
Städten wie San Francisco oder New York.
»In Seattle spielt sich im Kleinen ab, was man im
ganzen Land beobachten kann«, sagt Kshama Sa­
want. »Das Establishment der Demokratischen
Partei löst die sozialen Krisen einfach nicht. Die
haben nicht den Mut, etwas zu ändern, weil sie von
großen Unternehmen gekauft sind.« Die Wider­
sprüche, in die sich die amerikanische Linke ver­
strickt habe, sie hätten Donald Trump überhaupt
erst möglich gemacht, sagt Sawant.
Der Bundesstaat Washington, an dessen Küste
Seattle liegt, ist traditionell in der Hand der De­
mokraten. Seattle ist sein linksliberales Herz. Die
Bürgermeisterin der Stadt ist lesbisch, es gibt be­
sonders viele Fahrradwege und Biomärkte, in den
Vorgärten stehen bunte Schilder, auf denen Weiße
ihre Solidarität mit Schwarzen bekunden, auf de­

nen sie für mehr Umweltschutz und mehr Gleich­
berechtigung werben. So weit, so links. Nur nicht
in Verteilungsfragen. In den USA werden viele
Steuern nicht national, sondern von den Bundes­
staaten und Kommunen erhoben. Laut einer Stu­
die des Institute on Taxation and Economic Policy
ist das Steuersystem des Staates Washington das
unfairste in den USA: Es gibt am Wohnort von
Jeff Bezos, dem reichsten Mann der Welt, nicht
einmal eine Einkommenssteuer. Und die Grund­
steuer, eine der wichtigsten Einnahmequellen der
US­Städte, belastet laut der Studie den ärmeren
Teil der Bevölkerung übermäßig stark. Ein Stand­
ortvorteil für Wohlhabende, den es in kaum ei­
nem anderen Bundesstaat gibt und auf den die
Regierung von Washington nicht verzichten will.
Und so zahlt das ärmste Fünftel der Bevölkerung
rund 18 Prozent seines Einkommens für Steuern,
etwa für Mehrwertsteuern. Das reichste Prozent
der Bevölkerung dagegen nur 3 Prozent.
»Entweder macht man Politik für einfache Ar­
beiter«, sagt Sawant. »Oder man macht Politik für
große Unternehmen und Superreiche. Wer sagt,
dass beides gleichzeitig geht, lügt.« Sawants Geg­
ner sagen, sie sei unfähig zu Kompromissen. Der
Herausgeber der größten Zeitung Seattles nannte
sie »Spalterin« und »schlimmer als Donald
Trump«. Sawant sagt: »Was die Gesellschaft wirk­
lich spaltet, ist die ungelöste Verteilungsfrage.«
Sawant stammt aus Indien, sie hat dort als
Software­Entwicklerin gearbeitet. Später zog sie in
die USA, promovierte in Ökonomie, wurde
Hochschullehrerin und schloss sich während der
Finanzkrise der Occupy­Bewegung an. Heute ist
sie eine Art Bernie Sanders der Lokalpolitik: Sie
gilt als Linksaußen, dabei sind ihre Forderungen
nicht sonderlich radikal, zumindest nicht aus
deutscher Sicht. Einiges davon hat in Deutschland
die CDU mitverabschiedet, die Mietpreisbremse
etwa oder den Mindestlohn.
Sawants Rhetorik jedoch klingt nach Agitprop,
sie passt zu den alarmsignalroten Wahlplakaten,
die in ihrem Vorzimmer hängen. Konzernvor­
stände nennt Sawant »Gangster des kapitalis­
tischen Systems«, sich selbst bezeichnet sie als
»Kämpferin für die Arbeiterklasse«. Sie hat den
mächtigsten Konzern des digitalen Zeitalters zu
ihrem Feind erklärt. Aber sie agiert mit dem Pa­
thos einer Klassenkämpferin aus dem 19. Jahr­
hundert. In einem Land, dessen Angst vor dem
Sozialismus bis heute so ausgeprägt ist, dass die
Einführung einer allgemeinen Krankenversiche­
rung selbst unter vielen linken Politikern als staat­
licher Übergriff gilt, hat Sawant es weit gebracht.
2015, zwei Jahre nachdem sie in den Stadtrat ein­
zog, erstritt sie gemeinsam mit Gewerkschafts­
vertretern einen Mindestlohn von 15 Dollar pro
Stunde. Mehr als doppelt so viel wie der staatlich
vorgeschriebene Mindestlohn, der bei 7,25 Dollar
lag und vielerorts nicht mal reichte, um die Miete
zu bezahlen. Eine spektakuläre Initiative, die in
großen US­Städten Nachahmer fand.
Heute laufen Sawants Wahlkampfhelfer durch
Seattles Straßen, um sie im Amt zu halten. Sawant
erhält laut eigenen Angaben keine Spenden von
Konzernen und deren Lobbygruppen. Unter
Wahlkampfstrategen gilt das als Nachteil. Sawant
hat es zum Motto ihrer Kampagne gemacht. Auf
den roten T­Shirts ihrer Anhänger steht: »Kshama
Sawant, die Abgeordnete, die nicht käuflich ist«.
Es ist dieselbe Strategie, die Elizabeth Warren ver­
folgt, eine der aussichtsreichsten Kandidatinnen
der Demokraten für die Präsidentschaftskandida­
tur im kommenden Jahr. Warren wirbt dafür,
Superreiche wie Jeff Bezos stärker zu besteuern.
Zwei Drittel der US­Amerikaner halten das laut
Umfragen für eine gute Idee.
Man sieht die roten Wahlplakate von Sawant
in den Kulturzentren und Bars der linken Szene
stehen, aber auch vor den Garagen gediegener
Einfamilienhäuser. Als Sawant im August ihre
Wahlkampfrede in der stickigen Mehrzweckhalle
hielt, saß unter den Zuhörern auch eine alte Dame
in beigefarbener Kaschmirjacke. D. J. Lower, 76,
pensionierte Lehrerin. Sie sagt, sie lebe seit 1962
in Seattle und erkenne ihre Stadt nicht wieder.
»Seattle wird immer reicher, und es gibt immer
mehr Obdachlose.« Die Amazon­Steuer habe sie
richtig gefunden. Und bis heute verstehe sie
nicht, warum die Steuer wieder abgeschafft wur­
de. »Ich bin so wütend«, sagt sie.
In Seattle ist der konsensualen Politik der bür­
gerlichen Mitte der Konsens abhandengekommen,
der Glaube daran, dass vom Reichtum eines Unter­
nehmers wie Jeff Bezos und vom Wachstum eines

Konzerns wie Amazon am Ende alle etwas haben.
Tatsächlich hat Amazon der Stadt ein gewaltiges
Wirtschaftswachstum beschert – aber auch einen
gewaltigen sozialen Graben. Der Wohlstand wächst
rasant, aber er tröpfelt nicht nach unten durch.
Seattles Handelskammer, eine der lautesten
Gegnerinnen der Steuer, hat auf eine Anfrage der
ZEIT nicht geantwortet. Auch Amazon will sich
nicht äußern. Nicht zur Steuer, nicht zu Kshama
Sawant. Man könne sich treffen und reden,
schreibt ein Pressesprecher, nur zitiert werden dür­
fe nichts. Das Treffen findet in einem neuen Büro­
gebäude von Amazon statt, ein gläserner Bau na­
mens »re:invent« mit lichtdurchflutetem Atrium
und einer Kunstinstallation im Treppenaufgang.
Von hier aus betrachtet hat Seattle dem Konzern
unendlich viel zu verdanken. Die 50.000 Arbeits­
plätze. Die mehr als eine Million Hotelübernach­
tungen, die Amazon allein im vergangenen Jahr
für seine Mitarbeiter und Kunden in Seattle ge­
bucht hat. Die Millionen Dollar Grundsteuer, die
Amazon jährlich zahlt. Den Innovationsschub,
den Seattle so dringend nötig hatte, weil die Stadt
vor allem von der Fischerei und klassischen Indus­
triejobs lebte. Die vielen Start­ups, die nur ge­
kommen sind, weil Amazon schon hier ist. Die
vielen Restaurants, die eröffnet wurden, weil
Amazon kaum Kantinen betreibt, damit die Mit­
arbeiter ihr Geld in die Lokale der Innenstadt tra­
gen. Die Restaurants, die wegen steigender Mieten
schließen mussten, sieht man von hier aus nicht.
Dass der Boom der Digitalindustrie der Stadt
brutale Wachstumsschmerzen bereitet, darüber
sind sich in Seattle alle einig. Darüber, wie man
die Schmerzen lindert, herrscht bis heute Streit.
Der Amazon­Sprecher Drew Herdener sagte
2018, der Konzern sei bereit, für die Bekämpfung
der Wohnungsnot Geld zu zahlen. Nur wofür es
ausgegeben werde, das wolle man selbst entschei­
den. Er verwies auf eine Notunterkunft für Ob­
dachlose, die Amazon finanziere und die im kom­
menden Jahr eröffnet werden solle – in einem der
neuen Bürobauten, die gerade in der Innenstadt
entstehen. Ein Obdachlosenheim, mitten auf
dem Amazon­Campus, zwischen Cafés, in denen
ein kleiner Cappuccino fünf Dollar kostet und ein
belegtes Brötchen zehn. Amazon tut, was viele
US­Firmen tun: Sie misstrauen dem Eingriff des
Staats. Und investieren in Charity.

Die Stadt braucht nicht mehr Heime für
Obdachlose, sondern günstigere Mieten

Im Westen von Seattle sitzt eine Frau auf einer
Bank und sagt: »Das Problem ist nicht, dass es zu
wenige Obdachlosenheime gibt. Das Problem
ist, dass es zu wenig bezahlbaren Wohnraum
gibt.« Die Frau heißt Dani Amory, sie trägt aus­
gewaschene Jeans und eine Baseballkappe, auf der
»Grand Canyon« steht. Amory ist 65 Jahre alt und
gelernte Buchhalterin. Sie verlor ihre Wohnung,
als sie ihren Mietvertrag verlängern wollte und
plötzlich nachweisen musste, dass ihr Einkommen
mindestens das Zweieinhalbfache der Monats­
miete beträgt. So erzählt es Amory. Und so erzählt
es der Sozialarbeiter, der sie betreut.
Amory lebt in einem Übergangsheim, das die
Stadt errichtet hat, um obdachlosen Menschen bei
der Wohnungssuche zu helfen. Es gibt Wasch­
maschinen, Kühlschränke und Duschen, es gibt
Bewerbungstrainings und saubere Kleider für Vor­
stellungsgespräche und Wohnungsbesichtigun­
gen. Das Heim besteht aus winzigen Holzhäusern,
gelegen in einem Industriegebiet, zwischen Ran­
giergleisen und Lagerhallen.
»Auf dem Papier klingt das super«, sagt Amo­
ry, »aber in der Praxis funktioniert es nicht.« Aus
den Kühlschränken werde gestohlen, erzählt sie,
und die Betreuer, die den Menschen eigentlich
helfen sollen, würden von vielen nicht ernst ge­
nommen. Amory ist Rentnerin. Sie sagt, sie habe
ein geregeltes Einkommen. Nur keins, das rei­
chen würde, um sie von der Straße zu holen. Die
Stadt brauche einen anderen Wohnungsmarkt.
Einen, auf dem es Sozialwohnungen gebe, deren
Mieten sich nicht nur am Markt, sondern auch
am Einkommen der Stadtbewohner orientierten.
Dafür solle man Konzerne wie Amazon gern
besteuern, sagt sie. Es ist dieselbe Position, die
Kshama Sawant vertritt. Amory hat von Sawant
gehört. Eigentlich, sagt sie, traue sie Politikern
schon lange nicht mehr über den Weg. Sawant
aber wünsche sie Glück.

A http://www.zeit.deeaudio

Die Firmenzentrale in Seattle

Das Unternehmen
Amazon beschäftigt weltweit mehr als
600.000 Mitarbeiter, davon rund 50.000 in
Seattle. Der Umsatz betrug 2018 mehr als
230 Milliarden Dollar, der Gewinn lag bei gut
10 Milliarden Dollar. Amazon gehört zu den
wertvollsten und am schnellsten wachsenden
Konzernen der Welt. In der Kritik steht er
regelmäßig wegen Steuervermeidung und der
Arbeitsbedingungen in den Amazon­Lagerhallen.

Womit Amazon


Geld verdient


Die Geschäftsfelder
Geld verdient Amazon als Online­Händler, aber
auch mit Cloud­Diensten, die etwa
Speicherplatz für Firmenkunden anbieten.
Das Unternehmen betreibt Online­Werbedienste
und ein Logistik­Imperium mit eigenen Liefer­
diensten. 2017 erwarb Amazon die weltweit
größte Biosupermarktkette Wholefoods. Hinzu
kommen Dienstleistungen: In den USA können
Kunden auch Putzkräfte und Babysitter bestellen.

USA

Washington

Seattle

ANZEIGE ANZEIGE

Jetzt sichern: WIWO.DE/10WOCHEN

IHREVORTEILE:

gedruckte Ausgabe frei Haus
unbegrenzterZugang zu allen Inhalten auf wiwo. de inkl. Archiv
40%Erspar nis+Amazon-Gutschein

Dies istein Angebot der Handelsblatt GmbH,Toulouser Allee27,40211 Düsseldorf


  • (^15)

    AMAZ
    ON-
    GUTS
    CHEIN
    DURCHBLICK
    2
    Doppeltwirtschaftlich:
    Print+Digital 10Wochen 40%günstiger
    Nachrichtendirekt
    ausder H d
    Anbieter
    :Verla
    gD
    er Ta gesspiegel GmbH, Askanischer Platz 3, 10963 Berlin
    DasLeitmedium derHaupts tadt
    aus der Hauptstadt.
    Neu:DieTa gesspiegel App
    mit allen Nachrichten von
    Ta gesspiegel.de,Podcasts
    und demTa gesspiegel als
    digitale Zeitung (E-Paper).
    Jetztkostenlos laden.
    28 WIRTSCHAFT 10. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42 10. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42 WIRTSCHAFT 29

Free download pdf