Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1
Flüchtlinge treffen auf
dem griechischen
Festland ein

Foto: Yannis Kolesidis/EPA/REX/Shutterstock

Wie 2015 ist es schon wieder?


Die Türkei droht mit dem Einmarsch in Syrien, die griechischen Flüchtlingslager sind aufs Neue überfüllt. Europa streitet


immer noch um eine gemeinsame Asylpolitik VON L. FREHSE, M. LAU, U. LADURNER UND Ö. TOPÇ U


D


as schlechte Gewissen der
Europäer sitzt in einem Pa-
last auf einer Anhöhe in An-
kara. Seit der großen Flucht-
bewegung 2015 erinnert der
türkische Präsident Recep
Tayyip Erdoğan seine Amts-
kollegen in Berlin, Paris und Rom mal subtil, mal
weniger subtil daran, dass sein Land seit Beginn des
Bürgerkriegs in Syrien etwa vier Millionen Flücht-
linge aufgenommen hat. Und damit daran, dass die
Europäer in der Flüchtlingsfrage von ihm, Er-
doğan, abhängig sind.
Er denkt manchmal laut darüber nach, Flücht-
linge nicht mehr davon abzuhalten, über die Ägäis
nach Griechenland zu gelangen.
Er holte sich diese Woche beim amerikanischen
Präsidenten die Erlaubnis ein, in den kurdischen Ge-
bieten Syriens einzumarschieren, um dort die Kurden
zu vertreiben und Flüchtlinge anzusiedeln. Und weiß,
dass die EU nicht so entschieden gegen die Idee sein
kann, wie sie es eigentlich wollte – sie ist ja selbst nicht
willens, diese Flüchtlinge aufzunehmen.
Erdoğan macht sich zunutze, dass europäische
Regierungen nichts mehr fürchten als das Thema
Flucht und Migration. Steigt die Zahl der An-
kömmlinge in Europa, oder sinkt sie? Das ist die
Frage, um die Europas Migrationspolitik kreist.
Oder anders formuliert: Ein 2015 darf sich nicht
wiederholen.
Doch wie erpressbar ist Europa? Kann 2015 sich
wiederholen? Die Flüchtlingskrise war nicht nur
wegen der schieren Zahl der Ankommenden eine
Krise, sondern auch deshalb, weil nichts und niemand
darauf vorbereitet war. Die Frage ist, ob die EU
heute besser gewappnet ist.
Sorge und schlechtes Gewissen wären vielleicht
nicht so ausgeprägt, schaute man weiter als bis
nach Brüssel oder Berlin. Und auch weiter als bis
nach Ankara. Ein Teil des Fluchtproblems ließe
sich zumindest besser verstehen, wenn man den
Blick etwa in den Mittleren Osten wendete. Man
muss sich auf eine virtuelle Reise begeben, die weit
im Osten beginnt, sagen wir, im Iran.
Die größte Gruppe von Bootsflüchtlingen, die
derzeit an den Küsten der griechischen Inseln an-
kommen, sind Afghanen, sie sind zahlreicher als
die Syrer. Allerdings kommen die meisten nicht
direkt aus Afghanistan. Unter ihnen sind viele, die
seit Jahren im Iran gelebt haben. Doch dort hat
sich die wirtschaftliche Lage durch die US-Sank-
tionen verschärft. Davon besonders stark betroffen
sind die Schwächsten der Gesellschaft, die Mi-
granten. Wer kann, bricht Richtung Europa auf.
Vielleicht macht ein afghanischer Flüchtling aus
dem Iran zunächst Station in der Türkei. Dort stellte
man bereits Anfang des Jahres 2018 fest, dass die Zahl
registrierter afghanischer Flüchtlinge gestiegen ist,
etwa 170.000 sind es jetzt. Einige landen in einer
zentralen Auffangeinrichtung in der Stadt Erzurum,


die allerdings nur Platz für 1500 Menschen bietet.
Wer dort keinen Platz bekommt, muss sehen, wo er
bleibt. Zivile Hilfsorganisationen versorgten sie oft
mit dem Nötigsten. Die Geflüchteten halten sich mit
Gelegenheitsjobs über Wasser, mit solchen, die selbst
Syrer nicht annehmen. Und so mancher Afghane
landet nun an den Küsten der griechischen Inseln.
Betrachtet man diese Zusammenhänge, müsste für
die Europäer nicht nur die Erkenntnis folgen, dass
Sanktionen gegen den Iran handfeste Folgen für
Europa haben. Iranpolitik sollte auch die Flüchtlings-
politik mitdenken.
Doch nicht nur Afghanen kommen vermehrt.
Auch für die Syrer ändert sich einiges. Denn die
europäische Schlüsselfigur in der Flüchtlingsfrage
verfolgt ihre eigenen Pläne: Tayyip Erdoğan möch-
te in Syrien einmarschieren. Diesmal mit dem
Placet des amerikanischen Präsiden-
ten. Diese Übereinkunft ließ nicht
nur die kurdischen Milizen verzwei-
feln, die immerhin für die Amerika-
ner gegen den IS kämpfen. Auch die
sicherheits- und außenpolitische Elite
in Washington war schockiert.
Erdoğan will das faktisch autonome
kurdische Staatsprojekt, das sich an der
Grenze zur Türkei etablieren konnte,
verhindern und gleichzeitig ein Gebiet
schaffen, in das syrische Flüchtlinge
aus der Türkei zurückkehren sollen.
Der Landstrich, so das Argument, sei
unter der Kontrolle einer Terrororga-
nisation, der Partei PYD, eine Art
Schwesterpartei der verbotenen Kur-
dischen Arbeiterpartei PKK. Das
könne die Türkei nicht dulden.
Erdoğans »Umsiedlungspläne« sind
seit Langem bekannt, zuletzt hat er sie bei seiner Rede
vor der UN-Vollversammlung Ende September vor-
getragen. Er hielt das Foto des ertrunkenen Alan
Kurdi in die Höhe, des dreijährigen Flüchtlingskinds
aus Syrien, dessen Leiche 2015 an einen Strand von
Bodrum angespült worden war. Dessen Tod wurde
zum Sinnbild für das Versagen Europas in der Flücht-
lingsfrage. »Die Welt hat schnell vergessen«, klagte
Erdoğan. Sein Land habe in den vergangenen acht
Jahren 40 Milliarden Dollar für die Flüchtlinge aus-
gegeben, die EU habe der Türkei im Rahmen des
Türkei-EU-Abkommens bislang drei Milliarden Euro
gezahlt. Eine weitere Fluchtbewegung könne die
Türkei jetzt nicht mehr verkraften. Denn der Bürger-
krieg in Syrien ist nicht vorbei. In der letzten Rebel-
lenhochburg, der Provinz Idlib, sind vier Millionen
Menschen eingeschlossen, die bei erneuten Kämpfen
Richtung türkische Grenze fliehen würden. Die ist
nur eine Autostunde von Idlib entfernt.
Erdoğans Lösung: ein sogenannter Friedenskor-
ridor in Syrien, 30 Kilometer breit, 480 Kilometer
lang. Dort sollen etwa zwei Millionen Flüchtlinge
angesiedelt werden. Vollkommen freiwillig.

Kann dieser völkerrechtswidrige Plan in die
Tat umgesetzt werden? Ungewiss. Fest steht, dass
die Ankündigung ins Innere der Türkei wirkt.
Die »syrischen Gäste«, das ist die Botschaft, sind
nicht mehr willkommen. Antisyrische Ressenti-
ments finden sich in allen Milieus. So mag die
Idee eines Friedenskorridors auch dazu bestimmt
sein, die gesellschaftliche Zustimmung für den
Einmarsch und die faktische Vertreibung der
Kurden zu sichern.
Kommt es in Nordsyrien zu Kämpfen zwischen
türkischer Armee und Kurdenmilizen, werden
Menschen flüchten. Und auch in der Türkei le-
bende Syrer, die nicht umgesiedelt werden wollen,
könnten die gefährliche Weiterreise Richtung grie-
chische Inseln wagen, wo die Flüchtlingslager
schon längst wieder überfüllt sind.

Das Flüchtlingsabkommen, das die EU 2016
mit der Türkei schloss, sieht vor, dass die griechi-
schen Behörden Flüchtlinge ohne Bleibeperspektive
aus Afghanistan und aus Syrien schnell in die Tür-
kei abschieben und dafür syrische Flüchtlinge mit
Bleibeperspektive aufnehmen. Doch das griechi-
sche Asylsystem ist langsam. In den vergangenen
drei Jahren sind nur etwa 2000 Flüchtlinge in die
Türkei abgeschoben worden. Inzwischen leben
rund 30.000 Asylsuchende auf fünf griechischen
Inseln. Die Lager sind überfüllt, die Zustände sind
katastrophal. Also verlegten die Behörden in den
vergangenen Wochen mehrere Tausend Flüchtlin-
ge auf das Festland – was sie eigentlich laut Ab-
kommen von 2016 vermeiden sollen, um eine
mögliche Weiterreise der Flüchtlinge Richtung
Nordeuropa zu verhindern.
Die EU will an dem Deal mit der Türkei fest-
halten – er ist auf sechs Jahr angelegt. Insgesamt
fließen sechs Milliarden Euro aus Europa in die
Türkei. Entgegen den Behauptungen aus Ankara
seien die Zahlungen geleistet worden, heißt es in
Brüssel. In den Augen der Kommission funktio-

niert das Flüchtlingsabkommen trotz steigender
Flüchtlingszahlen. Natascha Bertaud, eine Spre-
cherin der Kommission, sagt: »Wir sind uns eines
Anstieges der Ankünfte in Griechenland und Bul-
garien bewusst. Es muss jedoch auch gesagt wer-
den, dass diese Zahlen deutlich niedriger sind als
noch vor dem Abschluss des Abkommens zwi-
schen der EU und der Türkei.« Die Zahlen stei-
gen, aber sie sind immer noch lächerlich gering im
Vergleich zu 2015.
Nicht nur über die Ägäis kommen Flüchtlinge
an, auch über die zentrale Mittelmeerroute – aller-
dings weniger als in den Jahren zuvor, was auch an
den brutalen Einsätzen der libyschen Küstenwache
liegen dürfte. Die derzeit eher niedrigen Zahlen
dort lassen die EU geradezu mutig werden.
Ende September trafen sich die Innenminister von
vier europäischen Staaten in Malta.
Die Innenminister Deutschlands,
Frankreichs, Italiens und Maltas
schlossen eine Vereinbarung, wonach
Bootsflüchtlinge nach einem Schlüssel
verteilt werden sollten. Deutschland
wollte 25 Prozent übernehmen, Frank-
reich dieselbe Quote, die Italiener zehn
Prozent. Diese Initiative war auch dazu
gedacht, die neue italienische Regie-
rung zu unterstützen. Die steht im
Nahkampf mit dem fremdenfeind-
lichen Matteo Salvini.
Die Vereinbarung von Malta sollte
bei der Konferenz der Innenminister
in der EU am Dienstag dieser Woche
formalisiert werden, begleitet von der
Hoffnung, dass sich weitere Staaten ihr
anschließen würden. Bundesinnen-
minister Horst Seehofer selbst sagte vor
wenigen Tagen bei seinem Besuch in der Türkei:
»Wenn wir das als Europäer nicht machen, dann
werden wir eine Flüchtlingsbewegung wie 2015 er-
leben – wenn nicht noch eine größere als vor vier
Jahren!« Geholfen hat es nicht. Griechenland und
Bulgarien protestierten zum Abschluss. Es gehe nicht
an, so der Inhalt der Stellungnahmen, dass nur Italien
geholfen werde. Keine Einigung also. Und kein we-
sentlicher Fortschritt im Vergleich zu 2015.
Ausschließen lässt es sich also nicht, dass bald
wieder mehr Flüchtlinge nach Deutschland ge-
langen. Wie sieht es mit den Vorbereitungen hier
aus? Wenn es ein zweites 2015 gäbe – wie gut wäre
beispielsweise die Bundeshauptstadt vorbereitet?
Sascha Langenbach ist Sprecher des Berliner
Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF).
»Unsere Zahlen geben derzeit noch keine Wieder-
holung von 2015 her«, sagt er. Pro Monat kommen
mehr als 500 Menschen bei ihm an. »Sollte sich das
aber wesentlich nach oben erhöhen, dann bekommen
wir bei der Unterbringung ein Problem.«
Im Sommer 2015 war das Amt unter dem Namen
Lageso weltberüchtigt geworden mit seinen endlosen

Schlangen, den auf der Straße campierenden Flücht-
lingen und völlig verzweifelten Mitarbeitern. Das
Lageso wurde zum Symbol des Kontrollverlusts. Das
Amt ist heute nicht wiederzuerkennen, es hat sich
praktisch neu erfunden: Das Personal wurde mehr
als verdreifacht, es gibt ein effizientes neues Ankunfts-
zentrum mit Spracherkennung, einen Sicherheits-
Datencheck und allen relevanten Behörden – bis auf
eine. Weil die zuständige Senatorin von der Links-
partei es so will, soll das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge (Bamf ), das Asylanträge auch ab-
lehnt, räumlich getrennt untergebracht werden.
Auch das Bamf, dem in der öffentlichen Wahr-
nehmung die Verantwortung für unkontrollierte
Einreisen und gescheiterte Abschiebungen gegeben
wurde, hat nachgerüstet. Die Bearbeitung eines Asyl-
antrags, die früher Jahre in Anspruch nehmen konn-
te, wird jetzt in drei Monaten erledigt. Bund und
Länder kooperieren enger, der Datenaustausch klappt
besser. Der Personalstand hat sich von knapp 3000
auf rund 7000 erhöht, bis hin zu einem Pool, aus dem
im Notfall Unterstützung herangezogen werden
könnte. »Hochlaufplanung« nennt sich das.
Doch ist die Republik politisch vorbereitet,
sollte 2015 sich wiederholen?
Dieser Tage starren viele auf den Bundesinnen-
minister. Manche wollen eine Wandlung vom Hard-
liner zum Softie beobachtet haben. Horst Seehofer
hatte verlauten lassen, die Bundesrepublik sei bereit,
jeden vierten im Mittelmeer aus Seenot geretteten
Flüchtling aufzunehmen. Auf die erbosten Reaktio-
nen auch aus den eigenen Reihen hat der Minister,
der einst die Politik der offenen Grenzen als »Herr-
schaft des Unrechts« verteufelte, mit komplettem
Unverständnis reagiert. Es sei »unglaublich, dass man
sich als Politiker für die Rettung von Ertrinkenden
rechtfertigen muss« – ein Satz, den so fast wortgleich
auch Angela Merkel schon einmal gesagt hatte, und
zwar im Jahr 2015.
Aber Seehofers Umfeld will von einem Sinnes-
wandel nichts wissen. In Wahrheit sei die Mixtur von
Humanität und Ordnung doch schon immer sein
Rezept gewesen. Und nun ist Seehofer nicht mehr
Parteivorsitzender – nur noch ein Innenminister, der
seine politische Laufbahn gern mit einem europä-
ischen Coup abschließen würde. Auch sein Master-
plan für Migration, die Gesetzespakete, die daraus
hervorgingen, enthalten diese Mischung, ein großes
Nein und ein kleines Ja. Seehofer baut darauf, dass es
den allermeisten Wählern so geht wie ihm: helfen
wollen, aber nicht überfordert werden.
Niemand kann sagen, ob sich 2015 wiederholen
wird. Aber wie damals sind wieder Menschen unter-
wegs, auf der Flucht vor Krieg, Unterdrückung und
Armut. Zuerst in die Nachbarländer und irgendwann
auch nach Europa.
Niemand könnte dann mehr behaupten, über-
rascht worden zu sein.

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2018 2019

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Zahlen der Syrer und Afghanen, die aus der Türkei nach Europa weiterziehen


  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42 POLITIK 3

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