Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1
Abb.: Stadtmuseum St. Pölten

1 Friedhof, 22.111 Skelette


In St. Pölten bei Wien graben Forscher


die größte Knochensammlung der Welt aus.


Sie erzählt von der Krankengeschichte


einer Stadt und vom brutalen Alltag


der Kinder im Mittelalter VON URS WILLMANN


ARCHÄOLOGIE


S


eit Ronald Risy erforscht, was unter
dem Asphalt des Domplatzes verborgen
liegt, sind viele Autofahrer genervt.
Noch weniger Parkplätze, und das mit-
ten in der Innenstadt! Der Stadtarchäo-
loge und seine Mitarbeiter graben sich
Stück für Stück durch die Geschichte
von St. Pölten. 55.000 Einwohner zählt dieser Ort
westlich von Wien, er hat bewegte Jahrhunderte hinter
sich. Ein entsprechend umfangreiches Archiv bildet
sein Untergrund: Zehn Jahre haben die Wissenschaftler
gebraucht, um sich durch 5600 Quadratmeter Fläche
zu graben. Und so sah sich der Bürgermeister veranlasst,
die geplagten Automobilisten ironisch um Verständnis
zu bitten. Am Domplatz hängte er ein Plakat auf:
»Mussten die alten Römer ausgerechnet unter unseren
Parkplätzen bauen?«
Nicht nur die Römer haben direkt unter den Autos
von St. Pölten gebaut, sondern auch die Kirche. Zwi-
schen dem Gemäuer aus dem 4. Jahrhundert finden
sich jüngere Fundamente eines mittelalterlichen Klosters
und die Mauern einer Friedhofskapelle. Denn am
Domplatz wurde bestattet. Und wie!
So sind es auch nicht die antiken und nachantiken
Bauten, die den innerstädtischen Parkplatz zu einem
weltweit einmaligen Ort für Archäologen machen.
Nirgendwo sonst stießen sie je auf so unglaublich viele
Gebeine wie hier. Die Toten waren im Lauf von neun
Jahrhunderten beigesetzt worden. Von wie vielen sie
stammen? »22.111 Individuen«, antwortet Risy. So
viele hat sein Team bis zum 7. Oktober aus dem Boden
geholt. Von manchen das komplette Knochengerüst
(mitsamt den Knöpfen des letzten Hemds). Von anderen
sind nur ein paar Rippen übrig oder eine Hand.
Ein kräftiger Westwind schiebt Wolken durch den
Himmel. Die Herbstsonne bringt die Gebäude am
Domplatz zum Leuchten: die Domkirche, den riesigen
Komplex des Bistums, die Filiale der Sparkasse Nieder-
österreich Mitte. Ronald Risy tritt an den Bauzaun,
der die allerletzte Grabungsfläche vom Rest des Platzes
abgrenzt. Jeder vorbeigehende Passant kann einen
Blick durch die Maschen des Gitters auf freigelegte
Skelette werfen. Dazwischen Gräben, Werkzeuge, die
Handschuhe der Archäologen, Pläne. Risy öffnet den
Zaun und schreitet über das vom Asphalt befreite Erd-
reich. Unentwegt schaffen seine Mitarbeiter Schub-
karren voller Material beiseite – sie sind in den letzten
Zügen. Die Grabung endet im November, ihre Aus-
wertung aber wird noch Jahrzehnte dauern, denn es
gilt, mehr als 300.000 Einzelfunde zu analysieren und
zu archivieren.


Ein Ort des Verbrechens? In kürzester Zeit
wurden Hunderte Kinder zugrunde gerichtet


»So eine Sammlung wird es nie mehr geben«, sagt Risy.
Der Stadtarchäologe meint damit allein die Größe des
gigantischen Knochenbergs, den er und seine Mitarbei-
ter zutage befördert haben – im Jargon der Fachleute:
die »umfangreichste regionale Hartgewebesammlung«
der Welt. Darunter finden sich größere Komplexe wie
das Sammelgrab Nummer sechs. Es war voller Kinder-
skelette, Altersklasse »neonatus bis frühjuvenil«, und
gibt den Experten bis heute ein schreckliches Rätsel
auf. Denn die Gerippe der kleinen Toten tragen Spuren
»hoher Arbeitsbelastung«, erzählt Risy. Und sie wurden
»zeitnah bestattet«, innerhalb weniger Jahre. Fabian
Kanz, Anthropologe und Forensiker der medizinischen
Universität Wien, ist für die Analysen des Knochen-
materials verantwortlich. Er fragt sich, was für ein Ort
des Leidens sich hier befand – wo Minderjährige unter
erbärmlichen Bedingungen malochten. Ein Waisen-
haus, das Schutzbefohlene zugrunde richtete?
Genauso wenig gibt es für das Sammelgrab Nummer
eins eine endgültige Erklärung. Viele der Toten weisen
Veränderungen im Schädelinnern auf. Meningitis? Wie
es kam, dass die Seuche in kürzester Zeit Hunderte
St. Pöltener dahinraffte, kann Risy nicht sagen. Die
Funde verraten nur, dass sie im großen Stil vergraben
wurden: »Reingeschichtet, Erde drauf, nächste Lage.«
Pocken, Masern, Grippe oder eine Vergiftungswelle
durch den Mutterkornpilz Claviceps purpurea kommen
als Ursache für die übrigen vier Sammelgräber infrage.
Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass eine andere,
wohlbekannte Seuche gewütet hat. Denn mittelalter-
liche Ruhestätten dieser Art gibt es in Europa zuhauf.
Meistens liegen in ihnen die Opfer der Pest epidemie
des 14. Jahrhunderts.
Stichhaltige Erklärungen fanden die Forscher für
drei Gräber im Kircheninnenraum. Die zusammen mit
umgestülpten Töpfen bestatteten Männer waren wohl
Priester: Der Anthropologe Kanz diagnostizierte an
den Knien krankhafte Veränderungen, wie man sie
auch von Fliesenlegern kennt, charakteristisch für »lange
kniende Tätigkeiten«. Einem anderen Mann hatten die
Hinterbliebenen zwei abgehackte Finger mitgegeben –
er war wohl an der Verletzung verblutet. Wie um ihn
möglichst komplett im Jenseits zu wissen, hatten sie
den Tontopf genau an der Stelle auf den Leichnam
gelegt, wo die Finger fehlten.
Ein Befund aus St. Pölten dürfte eine Lehrmeinung
stürzen: die gängige These nämlich, dass Christoph
Kolumbus und seine Mitreisenden die gefährlichen
Formen der Syphilis aus Amerika nach Europa einge-


schleppt hätten, Ende des 15. Jahrhunderts. Unter
dem Domplatz liegen nämlich Opfer von kongenitaler
Syphilis aus dem 14. Jahrhundert. Sie wird von Schwan-
geren auf Ungeborene übertragen. Der Pathologe Kanz
fand auffällige Spuren: Zähne mit halbmondförmigen
Einkerbungen sind typische Spätfolgen der angeborenen
Syphilis, ebenso wie knospenförmige Mahlzähne.
Den größten Erkenntnisgewinn versprechen aber
die schieren Zahlen. Eine unglaubliche Datenmenge
von 4,3 Terabyte haben die Archäologen hier ange-
sammelt, unter anderem 397.000 Fotos. In den Archiv-
räumen stehen 900 Bananenkartons voller Scherben
und Knochen, größtenteils noch unsortiert. Ein Big-
Data-Schatz mit gewaltigem Potenzial und voller
trauriger Geschichten: Mehr als ein Drittel der Be-
statteten hat es nicht geschafft, erwachsen zu werden;
nur ein Viertel wurde 40; erwachsene Frauen waren
durchschnittlich 158 Zentimeter groß, Männer 170.

Oben wurde getauft und geheiratet –
im Keller lagen die Knochen der Ahnen

Erste Arbeiten der Medizinischen Universität Wien
zeigen, dass die Versorgungslage in der Region Nieder-
österreich (im Vergleich zu anderen Regionen Europas)
gut war. Und sie verraten, woran schon im Mittelalter
die Menschen litten: Brust- und Prostatakrebs. Fabian
Kanz verspricht sich daher von der Auswertung der
22.111 Schicksale wertvolles Anschauungsmaterial für
heutige Pathologen, Orthopäden und Zahnmediziner.
Weil nämlich der Friedhof im Jahr 1779 dichtgemacht
wurde, bevor die industrielle Revolution begann, liefern
die Gebeine Vergleichsdaten, um die Entwicklung mo-
derner Zivilisationskrankheiten wie Osteoporose, Fett -
leibigkeit und Diabetes zu erforschen. Auch Daten über
Migrationsgeschehen und Klimaveränderungen enthal-
ten die Fossilien dieses »tausendjährigen Kontinuums«.
Neben all dieser Medizinstatistik betreiben Risy
und seine Kollegen auch ganz klassische Archäologie
anhand klassischer Funde. So sammelten sie 2900
Münzen ein, stießen auf Medaillons, Sargnägel, Gürtel-
schnallen und eine Taschensonnenuhr – daumennagel-
groß, die bewegliche Kompassnadel aus Eisen fünf
Millimeter kurz. Sie fanden Waffen, Rosenkränze und
Stoffreste, aus denen seither Textilkundler die Haute
Couture der frühen Neuzeit rekonstruieren.
Jedes Puzzleteil verleiht der Frühgeschichte St. Pöl-
tens eine Facette. Bekannt ist, dass Anfang des 2. Jahr-
hunderts nach Christus die Römer unter Kaiser Hadrian
oder Antonius Pius hier das Municipium Aelium Ce-
tium gründeten, die »aelische Stadt beim Wienerwald«.
In der Spätantike war der Ort der Sitz des zivilen Statt-
halters der Provinz Noricum ripense – mit Palast, Bade-
gebäude, Aula.
Gegen Ende des 5. Jahrhunderts wurde die Stadt ver-
lassen, eine »Siedlungsunterbrechung von fast 300 Jah-
ren«, stellte der Stadtarchäologe fest. Dann, nach den
Awarenfeldzügen Karls des Großen, die Klostergrün-
dung zu Ehren des Heiligen Hippolytus, dem die Stadt
ihren Namen verdankt: Das Heilige findet sich im »St.«,
aus dem hinteren Teil von Hippolytus (»-polytus«)
wurde Pölten. Die Christen ließen es sich im 9. Jahr-
hundert natürlich nicht nehmen, beim Aufbau von
Gotteshäusern und Stadtzentrum auf die römische Bau-
substanz zurückzugreifen. Das Badehaus wurde zur
Friedhofskapelle, diese zur Keimzelle der mittelalter-
lichen Stadt. Nachdem der Friedhof im 18. Jahrhundert
aufgegeben worden war, ließen die Oberen in der Mitte
des 19. Jahrhunderts das Herz ihrer Stadt auf ein ein-
heitliches Niveau planieren – seither gastiert hier der
Wochenmarkt, jüngst an Donnerstagen und Samstagen.
Die wechselvolle Geschichte des Domplatzes, die
ganzen »1700 Jahre bis zum Asphalt«, hat Ronald Risy
nun fast vollständig durchgraben. 2016 fand er eine
vierte mittelalterliche Kirche, die nur aus Quellen bekannt
war: die Andreaskapelle. In deren Tiefe stießen die
Forscher auf eine Knochenschüttung – »3500 Indivi-
duen«. Sie ist der Beweis dafür, dass der sakrale Bau als
Beinhaus genutzt wurde. Oben hielten Pfarrer Taufen und
Hochzeiten ab, darunter lag das Ossuarium, laut Über-
lieferung »voll mit Knochen der Verstorbenen erfüllt«. Bis
ins 20. Jahrhundert hat der Stadtarchäologe die Baumaß-
nahmen auf dem Domplatz dokumentiert. Bislang letztes
Kapitel: die »Hauptnutzung als Parkplatz«.
Profane Örtchen liefern den Archäologen mitunter
ergiebige Funde: die Latrinen. Das ist auch in St. Pöl-
ten der Fall. Wo einst die klösterliche Toilette stand,
fand sich in der Tiefe des Raums eine tönerne Hexe
mit dämonischem Antlitz, das rechte Auge gruselig
rot. Zwischen ihre Arme ließ sich vermutlich eine
Kerze stecken. Mit dieser Taschenlampe des 15. Jahr-
hunderts hat offenbar ein Klosterbewohner nachts
den Weg zum Plumpsklo gefunden. Beim Erleichtern
muss ihm das schmucke Lämpchen hinuntergefallen
sein – zu all den anderen Dingen, die im Klosteralltag
dort landeten. Der Lokus liefert zahlreiche Hinweise
auf damalige Ernährungsgewohnheiten: Brombeer-
kerne und Weintrauben, Reste von Bibern und die
Knochen eines drei Meter langen Störs, der zum Lai-
chen aus dem Schwarzen Meer die Donau hoch-
geschwommen sein muss. Damit komplementieren
die Funde aus der Latrine, was den Anthropologen
bereits die Knochen verrieten: Gutes Essen gab es in
St. Pölten schon im Mittelalter.

Quellen


St. Pöltens Stadtarchäologe Ronald Risy
führte die ZEIT durch das aktuelle
Grabungsgelände auf dem Domplatz

Verstorben, begraben und vergessen?
Die Ausstellung im Stadtmuseum
begleitet die wissenschaftliche Arbeit

Die erwähnte Syphilis-Studie von
Gaul et al. erschien 2015 im »Journal of
Biological and Clinical Anthropology«

Links zu diesen und weiteren Quellen
finden Sie auf ZEIT ONLINE
unter zeit.de/wq/2019-42

Befund-Lage: Jedes
einzelne gefundene
Skelett haben
die Forscher hier
eingezeichnet


  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42 WISSEN 37

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